Ermittler erhielten Lubitz’ Krankenakt
Der Kopilot der abgestürzten Germanwings-Maschine war vor seiner Karriere als Berufspilot als suizidgefährdet eingestuft und in psychotherapeutischer Behandlung. Das hat die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft am Montag mitgeteilt. Die Behandlung sei erfolgt, bevor er den Pilotenschein erwarb.
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Bei seinen Arztbesuchen in letzter Zeit sei ihm jedoch weder Selbst- noch Fremdgefährdung attestiert worden. Hinweise auf ein organisches Leiden gebe es in den ärztlichen Dokumentationen bisher nicht. Auch fehlten nach wie vor belegbare Hinweise auf eine Ankündigung oder ein Bekenntnis einer solchen Tat. Eine Reihe von Zeugen aus dem persönlichen und beruflichen Umfeld von Andreas Lubitz wurden bereits vernommen.
Weiter Rätselraten über mögliches Motiv
Im unmittelbaren persönlichen und familiären Umfeld oder am Arbeitsplatz seien keine besondere Umstände bekanntgeworden, die Hinweise über ein mögliches Motiv geben könnten, betonte die Staatsanwaltschaft. Der 27-Jährige wird verdächtigt, den Absturz eines Airbus A320 am vergangenen Dienstag vorsätzlich verursacht zu haben. Alle 150 Menschen an Bord kamen ums Leben.
Das Uniklinikum Düsseldorf hatte der Staatsanwaltschaft zuvor Lubitz’ Krankenakt übermittelt. Der Kopilot soll seinem Arbeitgeber laut Erkenntnissen der Ermittler eine Erkrankung verheimlicht haben. Für den Tag des Absturzes in Südfrankreich war er krankgeschrieben.
Kopilot vor einigen Wochen untersucht
Lubitz war vor einigen Wochen als Patient an das Uniklinikum gekommen. Dabei ging es den Angaben zufolge um „diagnostische Abklärungen“, die aber nicht näher erläutert wurden. Auch blieb unklar, in welcher der vielen Abteilungen der Kopilot untersucht wurde. Zwischen Februar 2015 und dem 10. März war der Mann mindestens dreimal vorstellig geworden.
Das Klinikum dementierte Berichte, wonach er „wegen Depressionen in unserem Haus in Behandlung gewesen sei“. Die Übergabe der Akten war ursprünglich für Freitag angekündigt worden. Vor dem Hintergrund der Germanwings-Katastrophe wird indessen intensiv darüber debattiert, ob die ärztliche Schweigepflicht für Angehörige sensibler Berufsgruppen gelockert werden sollte.
„Arbeitgeber sollen Ärzte vorgeben“
Der CDU-Verkehrsexperte Dirk Fischer forderte eine Lockerung der Schweigepflicht für sensible Berufe: „Piloten müssen zu Ärzten gehen, die vom Arbeitgeber vorgegeben werden. Diese Ärzte müssen gegenüber dem Arbeitgeber und dem Luftfahrtbundesamt von der ärztlichen Schweigepflicht entbunden sein“, sagte Fischer der „Rheinischen Post“. Der deutsche Abgeordnete Thomas Jarzombek (CDU) schlug eine Expertenkommission vor, die die Frage klären solle, wie mit ärztlichen Diagnosen bei Menschen in besonders verantwortungsvollen Berufen wie Piloten umzugehen sei.
„Dem Arbeitgeber dürfen wir gar nichts melden“
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach betonte in der „Bild“-Zeitung, wenn Leib und Leben anderer Menschen gefährdet seien, sei „der Arzt verpflichtet, den Arbeitgeber über die Arbeitsunfähigkeit des Mitarbeiters zu informieren“. Weiter sagte er: „Dies gilt ganz besonders im Fall psychischer Erkrankungen und einer möglichen Selbstmordgefahr.“
Dem widersprach Hans-Werner Teichmüller, der Präsident des deutschen Fliegerarztverbandes: „Dem Arbeitgeber dürfen wir gar nichts mitteilen. Da haben wir gar keine Berechtigung zu“, sagte Teichmüller am Montag im ZDF-„Morgenmagazin“. In diesem Fall hätte der Arzt lediglich das Luftfahrtbundesamt informieren dürfen. Die deutsche Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit, aber auch Personalvertreter in Österreich hatten bereits kurz nach dem Unfall vor „Schnellschüssen“, etwa bei Änderungen der Abläufe im Cockpit, gewarnt - mehr dazu in oesterreich.ORF.at.
Mehrere Sicherheitsfragen offen
Die Entdeckung der zerrissenen Krankschreibung in Lubitz’ Wohnung wirft dennoch Sicherheitsfragen für die Luftfahrtbranche auf. Reicht es, sich auf das Verantwortungsbewusstsein des Piloten zu verlassen, wenn bei bestimmten Krankheiten Lizenzentzug und der Verlust des gut dotierten Jobs droht? Arbeitspsychologen weisen darauf hin: Für viele Piloten steht mehr als ein Job auf dem Spiel, sondern ihre über alles geliebte Fliegerei - so wie bei Lubitz. Weltweit gibt es mehrere Abstürze, bei denen der „erweiterte Suizid“ als Ursache vermutet wird.
Die Vereinigung Cockpit zeigte sich bisher skeptisch gegenüber regelmäßigen psychologischen Tests: „Es spricht natürlich einiges dafür, dass es hier um einen Menschen, der psychisch krank gewesen ist, gegangen sein könnte“, sagte der Sprecher der Pilotenvereinigung, Jörg Handwerg, nach dem Unglück. Aber: „Man kann ja nicht jeden Piloten vor jedem Umlauf zu einem psychologischen Gespräch oder Test schicken.“ Die Gegenfrage ist aber wohl auch berechtigt - nämlich, ob einmal im Arbeitsleben ausreicht.
Patient muss Beruf nicht nennen
Ärzten und Krankenkassen sind jedenfalls die Hände gebunden. Sie dürfen den Arbeitgeber nicht auf eigene Faust informieren, auch wenn ihr Patient in einem Hochrisikoberuf arbeitet und die Diagnose noch so alarmierend ist. „Der Patient muss dem Arzt ja nicht einmal seinen Beruf nennen, und auch der Kassenärztlichen Vereinigung werden nur anonymisierte Daten übermittelt“, sagte ein Sprecher der Ärztekammer Nordrhein.

APA/EPA/Guillaume Horcajuelo
In Le Vernet wurden Blumen für die Opfer niedergelegt
„Das würde vollkommen gegen den Datenschutz verstoßen“, bestätigte ein Sprecher der Krankenkasse Barmer GEK in Wuppertal. „Das ist der Kern des besonders geschützten Vertrauensverhältnisses von Arzt und Patient. Der Arbeitnehmer trägt die Verantwortung. Wenn er es nicht erzählt, erfährt es der Arbeitgeber nicht.“ Eine Ausnahme bildet die fliegerärztliche Untersuchung. Ihr müssen sich die Berufspiloten einmal im Jahr unterziehen, und bei Nicht-Bestehen schützt dort keine ärztliche Schweigepflicht. Aber für psychologische Untersuchungen - so betonte der Präsident des Fliegerarztverbandes, Teichmüller - seien die Fliegerärzte nicht ausgebildet.
DNA-Experten: Identifizierung dauert bis vier Monate
Unterdessen kann die Identifizierung der Opfer nach Experteneinschätzung bis zu vier Monate dauern. Das sagte der Leiter des zuständigen Kriminalinstituts der französischen Gendarmerie, Francois Daoust, am Montag. „In Abhängigkeit von der Anzahl der Körperteile, die gefunden werden, kann der Zeitrahmen zwischen mindestens zwei und vier Monaten schwanken“, sagte Daoust am Sitz des Instituts in Pontoise bei Paris.
„Es ist besser, im Rhythmus der Wissenschaft zu arbeiten als zu überstürzen und damit das Risiko einzugehen, sich bei der Identifizierung zu irren.“ Nach Angaben des Institutschefs ist der Ausgang der Arbeiten unklar. „Wir können nicht versprechen, dass alle Opfer identifiziert werden können“, sagte Daoust. Beim Absturz einer Maschine von Air Algerie in Mali im vergangenen Jahr habe das Institut 115 von 116 Opfern identifizieren können. „Das 116. Opfer konnten wir nicht identifizieren, weil wir nichts von ihm wiedergefunden haben.“
Der Fachmann verwies auch auf die Umstände des Absturzes der A320 vor knapp einer Woche in den französischen Alpen. „In diesem Fall ist der Aufprall auch mit großer Geschwindigkeit erfolgt“, sagte Daoust. Aus seinem Institut ist derzeit ein mobiles Team mit 31 Experten in Seyne-les-Alpes. Proben der im Absturzgebiet gefundenen sterblichen Überreste werden ins Institut nach Pontoise gebracht und ausgewertet. Sie sollen letztlich mit den DNA-Proben der Verwandten abgeglichen werden.
Bisher mehr als 300 Angehörige angereist
In Frankreich sind bisher 325 Familienangehörige und Freunde der 150 Opfer in den Alpen empfangen worden. „Bis heute sind 325 Menschen nach Seyne-les-Alpes gereist“, dem Dorf in der Nähe des Unglücksortes, wie Germanwings-Geschäftsführer Oliver Wagner am Montag im südfranzösischen Marseille berichtete. Wagner erinnerte daran, dass Germanwings eine Soforthilfe für jede Familie in Höhe von 50.000 Euro beschlossen habe. Zum Stand der Ermittlungen wollte sich Wagner nicht äußern. Er bat Medienvertreter auch darum, nicht zu versuchen, mit den Familien der Opfer zu sprechen.
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