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„Fragwürdige Vorbilder“

„Systemversagen“ - damit erklärt das Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) die über Jahrzehnte reichenden Missbrauchsfälle im Stift Kremsmünster in Oberösterreich: Im Kloster fehlte es an Kommunikation, pädagogischer Ausbildung und sexueller Reife. Eltern zeigten zu wenig Gespür, auch Polizei und Staatsanwaltschaft wird eine „Teilschuld an der Nichtaufdeckung“ bis 2010 zugeschrieben.

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Das Stift habe es über Jahrzehnte nicht geschafft, die ihm anvertrauten Schüler ausreichend vor pädosexuellen Übergriffen zu schützen, dabei hätte das mit einer „besseren Kommunikationsstruktur“ verhindert werden können. So fasste Sozialforscher Florian Straus die am Freitag präsentierte Studie zum Missbrauchsskandal in dem Stift zusammen. Ein Drittel der Berichte bezieht sich auf sexuelle Gewalt. Die Hälfte dieser Übergriffe gehe über Grenzverletzungen wie innige Umarmungen und Küsse hinaus, heißt es. Sie seien als „Missbrauch mit direkten Manipulationen an den Geschlechtsorganen, einschließlich dem vollzogenen Beischlaf“, zu werten.

Prior Maximilian Bergmayr nannte die vom Stift in Auftrag gegebene Studie eine „ungeschminkte und transparente Darstellung“, die dem Kloster einen Spiegel vorhalte: „Ja, es hat uns ziemlich geschleudert.“ Abt Ambros Ebhart betonte, man werde sich weiter der Auseinandersetzung stellen - sowohl im Konvent als auch im Stiftsgymnasium. Er will auch externe Hilfe für die Prävention in Anspruch nehmen. Auf Nachfrage sagte er, dass heute keine der in der Studie beschuldigten Personen mehr im Bereich der Schule tätig sei.

Eigenständiges Rechtssystem

In Kremsmünster habe es ein eigenständiges Rechtssystem mit eigenen Regeln gegeben, geprägt von institutionellem Narzissmus, der ein positives Bild nach außen wie nach innen pflegte und Fehlentwicklungen zu vertuschen suchte, so die Studie. Das Internat wurde von vielen ehemaligen Schülern als „Disziplinarregime“ beschrieben, das auch Gewalt unter Schüler förderte - mehr dazu in oesterreich.ORF.at.

Die Tabuisierung von Sexualität und die mangelnde Reflektion darüber sowie die mangelhafte Kommunikation, auch aufgrund der monastischen Lebensform, seien dabei wichtige Faktoren gewesen. Die Schüler fühlten sich laut Studie „unglaublich ausgesetzt“, der Umgang sei „einfach roh“ gewesen.

Der Eliteanspruch der Institution und eine „völlig unzureichende pädagogische Qualifikation“ von Präfekten und geistlichen Lehrern hätten zu einem gesteigerten Machtpotenzial des pädagogischen Personals geführt, das alleingelassen wurde und selbst auf „fragwürdige Vorbilder“ angewiesen war. Die Mehrheit der belasteten Patres und Präfekten hatten demnach selbst das Stift Kremsmünster besucht. Es hätten sich zudem viele „Subwelten“ gebildet, die sich verselbstständigt hätten - mit unkontrolliertem Machtpotenzial.

Prügel als „Methode der Wahl“

Dass Äbte und Seniorenkonvent von den Vorfällen keine Kenntnis hatten, ist für die Studienautoren unwahrscheinlich. Die Vorfälle hätten sich teilweise im öffentlichen Raum vor der Schule und im Internat abgespielt. Ebenfalls unwahrscheinlich ist für sie die Theorie, dass Äbte und Mitglieder des Seniorenkonvents machtlos gewesen seien - die Äbte seien die höchste Instanz gewesen. Ihren Anordnungen hätten alle Patres bedingungslos Folge leisten müssen. Allerdings hätten es die Täter wohl geschafft, den Einfluss von Abt und Kloster gering zu halten. Zudem habe das Stift Kremsmünster in der Bildungsgesellschaft lange Zeit einen hervorragenden Ruf gehabt.

Die über Jahrzehnte eingesetzte Gewalt sei Usus gewesen, sie galt laut Studienautoren als normales Erziehungsmittel. Ohrfeigen und leichte Prügel waren demnach legitim und „Methode der Wahl“. Dabei soll durchaus darauf geachtet worden sein, dass es keine nach außen sichtbaren Zeichen gab - Schlüssel als Schlaginstrumente etwa wurden in Beutel verpackt. Solange Ohrfeigen als legitim galten, habe es vermutlich auch keine Alternativen dazu gegeben, so die Autoren, es fehlten demnach auch mögliche Grenzen für die Übergriffe. Erst in den 90er Jahren habe sich der Verzicht auf die Prügelstrafe in Kremsmünster durchgesetzt.

„Ringe des Schweigens“

Entsprechend sei durchaus nachvollziehbar, warum sich Zustände im Konvikt über Jahrzehnte nicht geändert hätten. Auch die Eltern seien teilweise machtlos gewesen. Einflussreichen Eltern sei es zwar gelungen, ihre Söhne vor übergriffigem Verhalten zu schützen, auch konnten sich einzelne Schüler gegenüber grenzverletzenden Präfekten durchsetzen und sich solidarisieren. Das gesamte System sei dadurch aber nie infrage gestellt worden, wohl auch wegen der fehlenden Solidarisierung der Eltern. Zudem wurden Schüler, die sich öffentlich erfolgreich gegen Übergriffe gewehrt hatten, meist aus dem Gymnasium entlassen.

Weiters habe es verschiedene „Ringe des Schweigens“ gegeben, die wie Filter gewirkt hätten. So habe es für Veröffentlichungen der Vorkommnisse durch die Schüler selbst verschiedene Hürden gegeben, angefangen mit der Unfassbarkeit des Erlebten, gepaart mit diffus empfundener Scham und hemmenden Tabuisierungen. Weitere Filter habe es auch bei den Eltern und den Patres gegeben, Letztere bezeichneten sich im Nachhinein betrachtet als naiv und blind - kombiniert mit einem Glauben an die Autorität der Vorgesetzten.

Ehemalige Schüler kritisieren Widerstand

Ehemalige Schüler kritisierten in einer schriftlichen Stellungnahme, dass vieles, das bisher geschehen ist, „nur gegen den aktiven Widerstand aus dem Konvent und Gymnasium durchgesetzt“ worden sei. Im Stift herrsche „nach wie vor eine feindselige Haltung gegenüber kritischen Betroffenen und Absolventenvertretern“. Es gebe zwar viele Entschuldigungen, aber „kein offenes Eingeständnis der institutionellen Mitwisserschaft und aktiven Vertuschung“. Sie würden sich daher zivilrechtliche Schritte vorbehalten, für die die Studie eine „unmissverständliche Grundlage darstellt“.

Ein Vertreter der Betroffenen warf dem Kloster vor, dass es über die Entscheidungen der Klasnic-Kommission hinaus keinerlei Entschädigung geleistet habe. Ebhart blieb dazu vage: „Ich bitte die, die noch Anliegen haben, sich an die Diözesane Kommission oder an die Klasnic-Kommission zu wenden.“

Studie als Teil der Aufarbeitung

Die Studie erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit, so die Autoren in ihrem Fazit, seien sie doch unter anderem auf die Kooperation der ehemaligen Schüler und Patres des Stifts angewiesen gewesen. Die Autoren gehen davon aus, dass sie bei ihren Interviews vor allem jene Personen erreicht hätten, die ohnedies ein Bedürfnis hatten, über ihre Erlebnisse zu reden. Für einige Betroffene könnten diese Gespräche zu schmerzhaft gewesen sein. Es habe aber auch positives Feedback ehemaliger Schüler gegeben, gerade im Bereich Bildungsangebote, auch von ehemaligen Schülern, die brutale Gewalt erfahren hätten. Der verurteilte Internatsleiter wollte mit den Studienautoren demnach nicht reden.

Nach dem Auffliegen der Affäre 2010 hatte das Stift das Münchner Institut IPP mit einer Studie zur Aufarbeitung beauftragt. Im Projektbeirat waren Abt und Prior, drei IPP-Experten sowie fünf ehemalige Schüler vertreten. Den Kern der Untersuchung bilden Interviews mit ehemaligen Schülern, Patres und weltlichen Angestellten, die zwischen 1945 und 2000 im Stift tätig waren. Dabei wurden 350 Fälle sexueller, körperlicher oder psychischer Gewalt ausgemacht, 24 Personen wurden beschuldigt.

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