Im Moment des Schreckens
Die Welt der vorletzten Jahrhundertwende ist uns heute nur in Schlagworten ein Begriff: der Vorabend des Ersten Weltkriegs; die Monarchie in ihren letzten Zügen. Aber wie Millionen von Menschen damals lebten - und starben -, darüber erzählt das Buch „Spektakuläre Unglücksfälle“ aus einer ungewöhnlichen Perspektive.
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Von 1872 bis 1928 erschien in Wien das boulevardeske Kleinformat „Illustrirtes Wiener Extrablatt“. Und der Name war Programm - die Illustrationen auf dem Titelblatt fehlten fast nie. Selbst als die Fotografie sich ab der Jahrhundertwende immer weiter ausbreitete, verdrängte sie die gezeichneten Bilder nicht. Im Blattinneren wurden mitunter ergänzend Porträtfotos der Akteure gezeigt.

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Atzgersdorf, 1897, ein besonders tragischer Unfall: Aus Spaß will ein Bursch sich außen an eine hochschießende Luftschaukel hängen - und spießt sich an einem Eisenhaken auf. Er verstarb noch an der Unfallstelle.
Ein Fotoapparat konnte immer nur Tatortbilder einfangen, wenn alles schon vorbei war. Der Illustrator hingegen hielt mit viel, manchmal mit allzu viel Fantasie den spannendsten Moment fest, gerne auch aus abenteuerlicher Perspektive (etwa ein „gemeinsamer“ freier Fall mit dem Opfer, das aus dem Fenster stürzt). Er raste an den Ort des Geschehens, fragte Zeugen nach Details und malte zügig sein Bild. Zuerst waren das noch kleine elaborierte Meisterwerke. Als die Konkurrenz auf dem Zeitungsmarkt größer wurde, ging es mehr um Schnelligkeit - die Illustration musste am Tag nach dem Ereignis fertig sein, für Akribie fehlte die Zeit.
Der Raser mit seinem Unterwäschetransporter
Flott, aber nicht flapsig, fundiert, aber keine Diplomarbeit: Für den Leser bietet das in angenehmer Sprache verfasste Buch eine lohnende Zeitreise. Denn ganz abgesehen vom „Thrill“, der mit Chronikberichterstattung immer einhergeht, wird viel über die Lebensumstände durchschnittlicher Menschen in der damaligen Zeit erzählt. Die Arbeitswelt, das Sozialleben, die Gefahren des damaligen Alltags waren jenen der heutigen Welt ähnlicher, als man sich bewusst ist.
Wer etwa glaubt, im Straßenverkehr wäre es damals eh noch gemütlich zugegangen, der irrt gewaltig. Gerade weil es noch nicht so viele Fahrräder und Autos gab, rechneten die Fußgänger oft nicht mit ihnen. Ein Pferdegespann kündigte sich mit lautem Hufgeklapper eine Minute an, bevor man es passierte. Da wäre es vollkommen in Ordnung gewesen, dass eine Dame in ihren 50ern, gedankenverloren ein Buch lesend, auf der Straße ging. Sie wurde durch einen „Raser“ (er kann unmöglich mit mehr als 50 km/h unterwegs gewesen sein) getötet, der mit seinem Lieferauto Unterwäsche für eine große Textilfirma transportierte.

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Ein schwerer Tandemunfall zweier Radfahrer in der steilen Berggasse. Die Gabel zerbrach, als sie bergab sausten.
Radfahrer wiederum waren nicht nur gefährlich (weil sie überhaupt fast geräuschlos unterwegs waren), sondern auch gefährdet. Allerdings nicht so sehr durch Autos oder Kutschen. Wenn sie durch Dörfer fuhren, mussten sie damit rechnen, im Vorbeifahren mit Steinen beworfen zu werden. Die sozialen Unterschiede waren groß - und die in ärmlichen Verhältnissen lebende Landbevölkerung hasste Radfahrer. Das Fahrrad galt damals als Modespleen der Reichen, als Inbegriff der Dekadenz.
Autos als Hassobjekte
Natürlich galt das auch fürs Auto. Der erste Unfall, der es aufs Titelblatt der Zeitung schaffte, war keine Kollision. Ein Automobilist hatte sein Fahrzeug vor dem „Ratzenstadl“ geparkt, einem heruntergekommenen Gebäudekomplex, in dem zahlreiche Menschen unter unwürdigen Bedingungen hausten. Ein paar Jugendliche kippten den Wagen kurzerhand auf das tiefer gelegene Trottoir. Noch heute sind Autos Reizobjekte für wütende Jugendliche - wenn man etwa an Unruhen in Paris oder London während der letzten Jahre denkt.

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Buchhinweis
Andreas Kloner: Spektakuläre Unglücksfälle aus dem Alten Wien. Metro Verlag, 160 Seiten, 19,90 Euro.
Und manche Unfälle waren einfach der Bauweise der Vehikel der damaligen Zeit geschuldet. Wer mit dem Automobil zu schnell in die Kurve fuhr, kippte um - Elchtest nicht bestanden. Und dass während der rasanten, aber normalen Fahrt durch die abschüssige Berggasse die Gabel eines Tandems bricht, sollte heute auch nicht mehr passieren. Von Kutschenunfällen wegen aufgestörter Pferde ganz zu schweigen.
Auch Arbeitsunfälle standen auf der Tagesordnung. Windige Geschäftemacher wollten damals Geld sparen und verzichteten deshalb auf Sicherheitsmaßnahmen für die Arbeiter. Heute lagern Firmen die gefährlichen Billigarbeitsplätze in Schwellenländer aus. Damals waren die Zeitungen voll von Schreckensmeldungen aus Wien. Dazu gehörte etwa der Brand in der Privatwohnung eines Apothekers. Der ließ dort von Frauen illegal Zündhölzer herstellen, wobei Chemikalien in Brand gerieten. Sechs Arbeiterinnen fingen Feuer. Drei konnten sich durch die Türe retten, drei sprangen aus dem Fenster. Der Zeichner stellte den dreifachen Fenstersturz in einem einzelnen Bild dar.

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„Bengalische Riesenzündhölzer“ ließ ein Apotheker von jungen Arbeiterinnen in seiner Privatwohnung herstellen. Ein Feuer brach aus, drei Mädchen sprangen brennend aus dem Fenster. Zwei von ihnen verstarben.
Bauboom auf Kosten der Sicherheit
Zahlreiche Unfälle passierten im Zuge des damaligen Baubooms. Es wurden nicht nur viele schön verzierte Innenstadthäuser errichtet, sondern auch Mietskasernen, in denen die stetig wachsende Arbeiterschaft eingepfercht lebte. Aber egal für wen gebaut wurde, gespart wurde immer. Am Kohlmarkt stürzte deshalb auf einer Baustelle die Kellerdecke ein. Vier Arbeiter kamen ums Leben.
Die Zeitung schrieb damals: „Das Leben und die Gesundheit eines Menschen werden da oft weniger geachtet als eine Fuhr Ziegel oder Schotter, und wenn man die vielen Arbeiter, welche auf diese Weise um’s Leben gekommen, auf einem Platze begraben wollte, so hätte man ein stattliches Zentralfriedhöfchen belegt.“ Die Poliere, heißt es weiter, würden lieber beim Branntweiner sitzen als sich „um die Beschaffenheit der ihrer Obhut anvertrauten Bauten zu kümmern“.

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Rohbau am Alsergrund: Ein Gerüst stürzt ein. Fünf Arbeiter werden verletzt, einer kommt ums Leben.
Dass gespart wurde, merkte man auch am Ergebnis dieser Bauweise: Alltäglich waren damals Deckeneinbrüche und gleich ganze Hauseinstürze. Jedes Jahr wurden Dutzende Menschen, die sich in ihren Wohnungen, Werkstätten und Geschäften befanden, unter Schutt begraben beziehungsweise Passanten von herunterfallenden Trümmern erschlagen.
Arbeits-, Sozial- und Technikgeschichte
Der kleine Wiener Metro Verlag begibt sich mit diesem Buch einmal mehr vom Herzen der Wiener Innenstadt aus so verdienstvoll wie spannend in die Randgebiete und -themen der Stadt. Sparen hätte man sich nur den formalen Rahmen können. Ein Kapitel pro Bezirk - dadurch kommt es immer wieder zu Redundanzen. Besser wäre es wohl gewesen, den Fokus noch mehr auf einzigartige, spektakuläre und exemplarische Unglücksfälle zu legen - egal, in welchem Bezirk sie zu beklagen waren. Aber auch so gilt: In diesem kurzweiligen Buch steckt viel Arbeits-, Sozial- und Technikgeschichte. Eine Lektüreempfehlung.
Simon Hadler, ORF.at
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