Chronologie der Causa Borodajkewycz
Die Affäre Borodajkewycz war ein Wendepunkt der heimischen Nachkriegsgeschichte. Die APA begleitete den Skandal von der gerichtlichen Verfolgung der Aufdecker bis zum ersten Politmord der Zweiten Republik mit Pressemeldungen, die sie nun online in einem historischen Dossier zur Verfügung stellt. Im Folgenden eine Chronologie der Ereignisse in Auszügen aus den Originaldokumenten:
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12. April 1960: Die APA steigt mit der zweiten Beschlagnahme einer Ausgabe der Zeitschrift „Forum“ innerhalb von nur zwei Wochen in die Berichterstattung ein. Der Grund für die „neuerliche Beschlagnahme durch Organe der Kriminalpolizei“: Klaus Gatterer hatte „unter dem Titel ,Kein Volk, kein Reich und viele Führer‘ auf einen ,allgemeinen deutschen Kulturbund‘ hingewiesen“. Diese Gruppe von zweifellos nazistischem Gedankengut wurde von dem Schriftsteller Mirko Jelusich und dem Universitätsprofessor Taras Borodajkewycz geleitet.
14. Mai: Der bekennend nationaldeutsch denkende Wiener Rechtsanwalt Ernst Strachwitz klagt gegen einen weiteren „Forum“-Artikel Gatterers unter dem Titel „Im braunen Blätterwald“. Darin wird er als „Brückenschläger zwischen den konservativen ÖVP-Kreisen und dem nationalen Lager“ dargestellt, was ihn aber nicht stört. Er fühlt sich vielmehr als Neonazi verunglimpft. Das Gericht entscheidet aber, „dass in dem Artikel zwischen ‚Neonazi‘ und ‚nationalem Lager‘ eine deutliche Unterscheidung getroffen und Strachwitz darin nur diesen, nicht aber jenen zugerechnet wurde“.
1. Dezember 1961 bis 18. Mai 1962: Der Wirtschaftsstudent und spätere SPÖ-Finanzminister Ferdinand Lacina muss Vorlesungen über Wirtschaftsgeschichte bei Borodajkewycz absolvieren und dokumentiert penibel dessen Äußerungen, darunter etwa, „dass einer der zwei größten Tage in seinem Leben Hitlers Rede auf dem Heldenplatz im März 1938 war“.
1963 und 1964: Der 24-jährige Jurist und heutige Bundespräsident Heinz Fischer verwendet Lacinas Mitschriften für Artikel im SPÖ-Organ „Zukunft“ und in der „Arbeiter-Zeitung“, in denen er Rechtsradikalismus an den österreichischen Hochschulen anprangert. Der Hochschulprofessor klagt, Fischer wird 1963 wegen Ehrenbeleidigung verurteilt, weil er sich weigert, seine Quelle preiszugeben. Er wollte Lacinas Identität nicht lüften, da dieser sein Studium noch nicht abgeschlossen hatte. Die APA-Archive enthalten darüber keine Meldung.
Borodajkewycz kann weiter ungestört in Univorlesungen seine Ansichten verbreiten und tut das auch schriftlich in einschlägigen Zeitschriften. In der Studentenschaft polarisiert er als Symbol immer mehr, die Affäre bleibt jedoch weiterhin unter der Wahrnehmungsschwelle der Nachrichtenmedien.
20. Jänner 1965: SPÖ-Abgeordnete fordern von Unterrichtsminister Theodor Piffl-Percevic (ÖVP) ein Disziplinarverfahren gegen Borodajkewycz. Begründet wird die SPÖ-Anfrage mit belegten Zitaten des Professors, etwa: „Zu den unerfreulichsten Überresten des an Gesinnungs- und Würdelosigkeit reichen Jahres 1945 gehört das Geflunker von der österreichischen Nation.“ In anderen Zitaten ist von dem „makabren Erlebnis der Umerziehung“ in den Nachkriegsjahren als „charakterlosem Versuch der Entdeutschung der Geschichte“ und „liebesdienerischer Unterwürfigkeit gegenüber den Besatzungsmächten“ die Rede.
Außerdem führt die Anfrage penibel Borodajkewycz’ Vergangenheit als illegaler begeisterter Nazi und Mitglied von SS- und SA-Verbänden auf. Im Jahr 1938 hat sich der Historiker gebrüstet, schon seit jeher hätten seine „wissenschaftlichen Arbeiten und Vorträge der Idee des Nationalsozialismus“ gedient. Piffl-Percevic reagiert nicht.
21. Jänner: Die rechtskonservativ dominierte Hochschülerschaft an der Hochschule für Welthandel (heute WU) stellt sich hinter den Rechtsradikalen. In einer Aussendung heißt es: „Die von Herrn Prof. Borodajkewycz gehaltenen Vorlesungen und Seminare, deren wissenschaftliches Niveau über jeden Zweifel erhaben ist, werden mit Begeisterung von den Hörern besucht, und es wurde niemals eine Klage, auch nicht von dem im Hauptausschuss vertretenen Mandatar des VSStÖ, über derartige Äusserungen laut.“
18. März: In der ORF-Kabarettsendung „Zeitventil“ montieren Gerhard Bronner und Peter Wehle unter Verantwortung von Fernsehdirektor Gerhard Freund Zitate Borodajkewycz’ zu einem fiktiven Interview zusammen. Der Professor klagt Bronner, Wehle und Freund.
23. März: Borodajkewycz gibt in einem Vorlesungssaal vor sympathisierenden Studenten eine Pressekonferenz. „Immer wieder vom Beifall der Studenten unterbrochen, geht der schmächtige Mann, den ein weißer Schnurrbart ziert, auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe ein“, schildert die APA die Szene. Er bekenne sich lediglich zu seiner „Vergangenheit“, erklärt der Professor. Als er über seine Klagen gegen Fischer und andere spricht und „dabei den Namen des Anwaltes der Gegenpartei, Dr. Rosenzweig, erwähnt, bricht das Auditorium in lautes, für den Außenstehenden ziemlich erschreckendes Gelächter aus“.
24. März: Das Unterrichtsministerium wird erstmals aktiv und bittet „den Rektor der Hochschule für Welthandel um sofortigen Bericht“ über die Veranstaltung vom Vortag. Borodajkewycz lässt die Ausgaben des „Kurier“ und des „Neuen Österreich“ vom selben Tag per Gerichtsbeschluss beschlagnahmen, weil darin über die „Pressekonferenz, bei der es zu antisemitischen Kundgebungen und zu lebhaftem Applaus der Studenten kam, als der Professor sich zu seiner nationalsozialistischen Vergangenheit bekannte“ berichtet wurde. Die Staatsanwaltschaft leitet Erhebungen wegen NS-Wiederbetätigung ein.
25. März: Der politische Druck steigt: Studentische Gruppierungen, denen sich nun auch der ÖVP-nahe Cartellverband anschließt, Vertreter von NS-Verfolgten, aber auch weite Teile der SPÖ beziehen offen gegen Borodajkewycz Stellung. Innerhalb von 24 Stunden ist der Fall zum bestimmenden innenpolitischen Thema geworden. Die APA berichtet an diesem Tag in 14 Meldungen über die Entwicklungen. In den Jahren und Tagen davor sind es insgesamt zwölf Meldungen gewesen.
26. März: Borodajkewycz wird „vor seinem Wohnhaus (...) von drei oder vier unbekannten Burschen überfallen, aber nicht verletzt“. Es kommt zu ersten Kundgebungen: „Die Demonstranten hatten zwischen 11 und 13 Uhr mit vier Transparenten, in denen gegen Neonazismus, für Demokratie aufgerufen wurde, vor der Welthandelshochschule Aufstellung genommen. Es waren Angehörige des Verbandes sozialistischer Mittelschüler. (...) Katholische Hochschüler verteilten vor der Hochschule gleichfalls aufklärende Schriften und Flugzettel mit der Einladung zum Besuch der Auschwitz-Ausstellung.“
Borodajkewycz hält seine Freitagsvorlesung trotz einer Bombendrohung ab. Sie ist „heute so gut besucht wie noch nie“, obwohl per Ausweiskontrolle nur immatrikulierte Studenten zugelassen werden. „Als Borodajkewycz um 13.10 Uhr die Hochschule durch einen Hinterausgang verließ, wurde er von rund 300 Studenten, die vorher mit den Demonstranten lebhafte Diskussionen geführt hatten, begeistert akklamiert. Der Professor bestieg unter dem Schutz von Kriminalbeamten ein bereitgestelltes Auto und fuhr, noch aus dem Wagenfenster dankend, davon.“

ORF
Straßenschlacht in der Wiener Innenstadt
29. März: „Professor Borodajkewycz hat in dieser Woche seine Vorlesungen an der Welthandelshochschule abgesagt“, gibt das Rektorat der Hochschule bekannt. Die Frage disziplinarrechtlicher Folgen für den Professor wird hingegen zwischen Uni und Unterrichtsministerium hin- und hergespielt. Die katholische Hochschuljugend Österreichs legt Wert auf die Feststellung, dass sie weder „die Abberufung des Professors Borodajkewycz gefordert“ habe noch „an einer für Montag, den 29. März, geplanten Protestdemonstration gegen Professor Borodajkewycz“ teilnehmen wolle.
Eine erste große Demonstration in der Wiener Innenstadt findet statt: „Es waren ungefähr 500 Personen, und zwar Angehörige der Widerstandsbewegung und Studenten, die sich ihnen angeschlossen hatten. Als die Spitze des Zuges die Höhe der Philharmonikerstrasse erreichte, gerieten die Teilnehmer, die am Ende, also noch an der Opernkreuzung, marschierten, in ein Handgemenge mit ungefähr 200 jungen Leuten, die sich durch Transparente und Sprechchöre als Borodajkewycz-Anhänger deklarierten und außerdem auch Kundgebungen gegen die Presse laut werden ließen.“
„Als die Züge der Demonstranten und Gegendemonstranten vor der Fassade des Bundeskanzleramtes in der Löwelstrasse angelangt waren, zeigte sich Außenminister Dr. Kreisky auf einem Balkon des Hauses. Anhänger und Gegner des Professor Borodajkewycz blieben einige Minuten lang stehen und der Außenminister winkte den Demonstranten der Widerstandsbewegung freundlich zu. Als hierauf Pfui-Rufe von Seiten der Anhänger des Professors ertönten, machte der Außenminister in Richtung dieser Rufer eine wegwerfende Handbewegung.“
Borodajkewycz’ Anhänger kesseln immer wieder Gruppen der Demonstranten ein, werfen Böller in den Demonstrationszug, und lassen Rufe wie „Heil Taras“ hören. Am Ende stehen einander laut APA 1.000 Demonstranten und 200 Borodajkewycz-Anhänger gegenüber. Mehrere Prügeleien quer durch die Wiener Innenstadt werden gemeldet: „Dabei wurden einige Personen geohrfeigt. Sie trugen aber keine ernstlichen Verletzungen davon.“ Es wird vor allem von Gruppen berichtet, die bis spät in den Abend „heftig miteinander debattieren“.
30. März: „Das Rektorat der Hochschule für Welthandel gibt bekannt, dass in der Zeit von 31. März 1965 bis einschließlich 3. April 1965 alle Vorlesungen abgesagt sind und die Hochschule geschlossen bleibt“, enthält sich jedoch sonst jeglichen Kommentars zu der Causa. Der Ministerrat der Regierung tagt und teilt ohne jedes inhaltliche Detail mit, der Innenminister und der Unterrichtsminister hätten über die Causa Bericht erstattet.
31. März: Piffl-Percevic wird in der Fragestunde des Nationalrats von der SPÖ mit der Frage konfrontiert, ob der „frühere NSDAP-Schulungsleiter, Mitarbeiter des SS-Sicherheitsdienstes und derzeitige ,Hochschullehrer‘, Taras Borodajkewycz, der in der vergangenen Woche im Mittelpunkt einer antisemitischen Demonstration auf Hochschulboden stand, bereits vom Dienst suspendiert“ worden sei. Der Minister antwortet: „Auch wenn ich dieses Recht besäße, würde ich es nicht ausüben, ohne vorher einen amtlichen Bericht über die Vorkommnisse an der Hochschule eingeholt zu haben.“ Alles andere käme einer „Wiederholung“ der „Rechtlosigkeit, die wir unter dem nationalsozialistischen Regime in so tragischer Weise zu spüren bekommen haben“, gleich.
Ab dem „späten Nachmittag“ kommt es in der Wiener Innenstadt zu „wüsten Raufereien“. Etwa 200 Borodajkewycz-Sympathisanten wollen eine Kundgebung von Studenten der Technischen Universität verhindern - „durch Sprechchöre, in denen sie Professor Borodajkewycz hochleben liessen, und durch Werfen von Eiern, Paradeisern und Orangen“. Die rechten Studenten attackieren den Demonstrationszug auf der ganzen Route durch die Innenstadt, unter anderem mit „Böllern“, „Stahlruten“, „Stinkbomben und Tränengasbomben“.

ORF
Ernst Kirchweger
Um 18.30 Uhr berichtet die APA in einer Vorrangmeldung: „Vor dem Hotel Sacher kam es nach Schlägereien zwischen den beiden Demonstrantengruppen zu einem schweren Unfall. Ein ca. 60-jähriger Mann, dessen Name noch nicht bekannt ist und von dem man auch noch nicht weiß, zu welcher Demonstrantengruppe er gehört, blieb mit einer schweren Kopfverletzung in einer Blutlache liegen und musste von der Rettung abtransportiert werden.“ 32 Minuten später folgt die Angabe, bei dem Mann handle es sich „um den 67-jährigen Rentner Ernst Kirchweger aus Wien 10“. Er sei „mit einer Platzwunde am Kopf, Verdacht auf Unterkieferbruch und einer Schädelprellung in die erste Unfallstation gebracht“ worden.
Am Abend besetzen Borodajkewycz’ Anhänger die Freitreppe der Hauptuni, behaupten in Plakaten, zwei ihrer Mitglieder seien an diesem Tag ermordet worden, und singen das deutsche Soldatenlied „Ich hatt’ einen Kameraden“. Die Berichterstattung der APA an jenem Tag endet mit einer Bilanz der Widerstandsbewegung um 23.45 Uhr: 5.000 Demonstranten seien 800 „Gegendemonstranten“ gegenübergestanden. Die Polizei bilanziert mit einem Schwerverletzten und mindestens acht Leichtverletzten unter den Demonstranten.
1. April: Der Ring Freiheitlicher Studenten (RFS) demonstriert vor der TU „gegen die roten Demonstrationen“ und verteilt Flugzettel „gegen die Brutalität der Straße“, in denen den „mehr als 2.000 Studenten und Studentinnen (gemeint: Borodajkewycz-Sympathisanten), die gestern spontan für die Hochschule eingetreten sind, Hochachtung bezeugt wird“. Am Nachmittag werden „auf Weisung des Rektors die Tore der technischen Hochschule gesperrt“.
Die österreichische Hochschülerschaft distanziert sich „von allen Demonstrationen“, „verurteilt aber entschieden den Einsatz bewaffneter Rollkommandos, die mit Autobussen herbeigeführt wurden. Stahlruten und Ketten sind nicht die geeigneten Argumente, zu der von allen aufrechten Österreichern dringend angestrebten Bewältigung der Vergangenheit“. Am Nachmittag gibt die Polizei bekannt, dass Kirchweger in Lebensgefahr schwebt, und bittet Zeugen des Vorfalls, sich zu melden.
In einer ersten, wenn auch informellen Stellungnahme erklärt ÖVP-Bundeskanzler Josef Klaus, es solle nicht der „Eindruck erweckt“ werden, „die Eigenstaatlichkeit Österreichs, seine demokratische Ordnung und die Toleranz gegenüber allen Rassen, Klassen und Konfessionen gebe in Wien Anlass zu Straßenschlachten“. Es gelte, Antisemitismus entgegenzutreten, aber auch „der offenen Ablehnung unserer demokratischen Ordnung durch die Kommunisten und der versteckten Kritik an den demokratischen Einrichtungen durch manche Linksintellektuelle. (...) Wir dürfen aber auch nicht wegen einer umstrittenen Person Hunderttausende, die längst zu Österreich und zur Demokratie zurückgefunden haben, wieder irre machen.“
Die Abgeordneten von ÖVP und SPÖ im Parlament fordern die Regierung auf, „alle Schritte zu unternehmen, die zur Abwehr anti-österreichischer und antisemitischer Bestrebungen erforderlich sind. Dieser Nationalratsbeschluss verpflichtet alle Behörden der Republik in Hinkunft zum unverzüglichen und entschiedenen Einschreiten“.
2. April: Borodajkewycz ersucht um Beurlaubung und Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen ihn selbst. Kurz darauf teilt die österreichische Widerstandsbewegung „in tiefer Trauer mit, dass Kamerad Ernst Kirchweger heute um 11.45 Uhr gestorben ist“. Klaus feiert den Jahrestag seiner Ernennung zum Regierungschef mit einer Erfolgsbilanz und geht nur am Rand mit zwei Sätzen auf den Fall Borodajkewycz und Kirchweger ein, für dessen Tod er „ein eklatantes Versagen der Sicherheitsorgane“ verantwortlich macht.
Die FPÖ gibt in einer „Feststellung“ ihrer „Erschütterung darüber Ausdruck, dass die Exzesse und Leidenschaften über Vernunft und Gesetz gesiegt und dadurch während der Vorfälle in der Wiener Innenstadt ein Menschenleben gefordert haben“, und bezieht das explizit auf „alle Demonstranten“. Ohnehin wäre nach Meinung der Partei „die Demonstration der Widerstandsbewegung nicht zu genehmigen gewesen“. Gewerkschaftsverbände, die KPÖ und die Widerstandsbewegung sehen die Schuld klar bei Borodajkewycz’ Sympathisanten, die SPÖ weist zumindest darauf hin, dass Kirchweger - im Unterschied zur Gegenseite - lediglich an einer genehmigten Demonstration teilgenommen habe.
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