Ort und Zeit flexibel gestalten
Mehr Autonomie beim Arbeiten, eine bessere Work-Life-Balance und mehr Selbstverwirklichung oder steigende Unsicherheit und Abrutschen in die Armutsfalle durch allzu flexibles Arbeiten? Die einen preisen die gewonnene Freiheit durch flexiblere Arbeitsformen, die anderen warnen vor einem wachsenden Prekariat. Die Arbeitswelt der nächsten Jahrzehnte ändert sich jedenfalls grundlegend.
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In Großbritannien, Irland, aber auch Italien ist etwa Arbeiten per Rufbereitschaft bereits auf dem Vormarsch. Mit sogenannten On-call- oder auch Zero-Hours-Verträgen gibt es zwar einen permanenten Arbeitsvertrag, das Unternehmen ist aber nicht verpflichtet, den Mitarbeiter auch mit Arbeit zu versorgen. „Der sitzt am Telefon und wartet, wann er eingesetzt wird - am selben Tag, in einer Woche oder mehrere Monate gar nicht“, erklärt die Betriebswirtin Irene Mandl im ORF.at-Interview.
Wer allerdings nicht arbeitet, bekommt trotz des Vertrags kein Geld und ist auch nicht sozialversichert. In besonders drastischen Fällen gebe es auch Exklusivvereinbarungen, sodass gar kein anderer Job angenommen werden dürfte, so Mandl. Diese extreme Ausprägung flexibler Arbeitsformen hält Mandl aus heutiger Sicht für Österreich aufgrund des starken Netzwerks von Arbeitsrecht und Sozialpartnern für unvorstellbar. Doch auch hier können die befristeten Arbeitsverhältnisse für bestimmte Projekte, Saisonen und kleinere Aufgaben zunehmen, ist sie überzeugt - mit allen möglichen positiven und negativen Konsequenzen.
Starke Unterschiede zwischen Ländern
Mit einem Forschernetzwerk aus ganz Europa veröffentlichte Mandl über die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions/Eurofound) kürzlich eine Studie über „Neue Formen von Beschäftigung“. Verglichen wurden die EU-Mitgliedsstaaten und Norwegen. Im Fokus standen dabei Arbeitsmodelle, die seit dem Jahr 2000 auftauchen oder sich seither verstärken.
Die traditionelle Telearbeit sei schon zu sehr etabliert und daher kein Thema in der Untersuchung gewesen, sagt Mandl. Auch wenn es zwischen den einzelnen Ländern starke Unterschiede gibt, gehen die Trends laut Studie eindeutig in Richtung Flexibilität, was Ort, Zeit, aber auch die Art der Zusammenarbeit betrifft. Das muss aber nicht immer zulasten der Arbeitnehmer gehen, so Mandl.
Flexibilität per Gesetz
In den Niederlanden etwa ist flexibles Arbeiten bereits Normalzustand. Jobsharing - zwei oder mehr Mitarbeiter teilen sich einen Arbeitsplatz - ist dort kein Thema mehr, sondern Standard, betont Mandl. Erst Mitte April wurde das Recht auf flexible Arbeitszeiten gesetzlich verankert. Wenn Mitarbeiter also ihre Arbeitszeit flexibel einteilen und auch von zu Hause aus arbeiten wollen, dürfen Unternehmen mit mehr als zehn Mitarbeitern diesen Wunsch nur noch aus schwerwiegenden betrieblichen Gründen ablehnen. In Irland setzte vor allem der öffentliche Sektor auf das Jobsharing-Modell - um zu sparen, aber gleichzeitig das Know-how der Mitarbeiter zu behalten.
„Zu viel traditionelles Denken in Österreich“
Für Österreich machte die Eurofound-Studie Jobsharing und auf neuen Technologien basiertes Arbeiten nicht als Trend aus. Obwohl laut einer Umfrage des Instituts für Personal & Organisation der FHWien unter Unternehmern und Angestellten mit und ohne Führungsverantwortung über die Herausforderungen der neuen Arbeitswelt an das Personalmanagement über 50 Prozent der Befragten mobil etwa im Zug, Flugzeug und in der U-Bahn arbeiten, sind die Österreicher offenbar weniger kommunikationstechnisch orientiert als andere Länder. Mandl: "Die digitale Tradition ist hier nicht so stark verbreitet wie etwa in Skandinavien.
Die Wirtschaftswissenschaftlerin führt das auch auf die Wirtschaftsstruktur in Österreich zurück. Zudem fehle es in Österreich bei Unternehmen, Politik und Sozialpartnern an Bekanntheit und Bewusstsein über alternative flexible Möglichkeiten abseits der Telearbeit. „Es gibt in Österreich zu viel traditionelles Denken auf allen Ebenen. Es wird zu wenig über den Tellerrand geschaut“, bemerkt Mandl.
Doch vor dem Trend Richtung mehr Flexibilität könne sich auch Österreich nicht abschotten. Der Bedarf werde sowohl bei Arbeitgebern als auch bei Arbeitnehmern wachsen, sind Experten überzeugt. Auf dem Vormarsch sind auch in Österreich alternative Kooperationsmethoden von Selbstständigen und kleinen Unternehmen etwa in Co-Working-Spaces, wo Netzwerke und Infrastruktur geteilt und gemeinsam genutzt werden. Das beschränkt sich aber vor allem auf den Kreativbereich.
Mitarbeiter aufteilen
Als noch in den Kinderschuhen steckend, aber mit einem vielversprechenden Ausblick beurteilt Mandl das Modell des Mitarbeiter-Sharings, bei dem sich mehrere Arbeitgeber einen Mitarbeiter teilen und dieser damit einen Vollzeitjob bekommt. Entwickelt hat sich diese Form bereits vor rund 30 Jahren in Frankreich in der Landwirtschaft (Groupements d’employeurs). Dort breitete sich das gemeinsame Einstellen von Mitarbeitern mittlerweile auf mehrere Sektoren aus. In Österreich nennt sich das Mitarbeiter-Sharing Arbeitgeberzusammenschluss (AGZ).
Ein erster Versuch in der Steiermark scheiterte nach dem Auslaufen der öffentlichen Förderungen. In Niederösterreich wurde erst Anfang vergangenen Jahres ein neuer Zusammenschluss mit neun Arbeitgebern aus Gastronomie, Tourismus und Produktion gestartet, die derzeit gemeinsam sieben Arbeitnehmer beschäftigen. „Die AGZ sind ein regionales Instrument. Die Mitarbeiter sollten nicht zu viel pendeln müssen, und der Bedarf nach Arbeitnehmern muss bündelbar sein“, erklärt Mandl. Entscheidend sei aber die externe Unterstützung beim Aufbau dieser AGZ.
„Bedarf ist da“
Diese Aufgabe übernimmt der Regionalentwickler progressNETZ als Projektträger für die AGZeins in Niederösterreich noch bis Herbst. Dann sollte der Zusammenschluss vollständig auf eigenen Beinen stehen. Arbeitskräfte getauscht werden etwa zwischen Betrieben, die unterschiedliche saisonale Spitzenzeiten haben. „Die Unternehmen zahlen die Zeit, die der Arbeitnehmer auch tatsächlich bei ihnen beschäftigt war“, erklärt progressNETZ-Projektleiter Alexander Szöllösy gegenüber ORF.at.
Fragen wie etwa Urlaub klären die Mitarbeiter über ihren Arbeitgeber - den AGZ 1. Wie stark sich dieses Modell in Österreich verbreiten wird, kann Szöllösy nicht abschätzen: „Aber der Bedarf ist da - und vor allem die Möglichkeit, auf kommunaler Ebene Arbeitsplätze zu schaffen.“ In anderen Bundesländern gebe es reges Interesse. Entwicklungspotenzial nach oben gibt es jedenfalls: In Frankreich sind in über 5.000 Groupements d’employeurs bereits 40.000 Vollzeitjobs geschaffen worden.
Simone Leonhartsberger, ORF.at
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