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Wurde falsche Fährte gelegt?

Die Moskauer Zeitung „Nowaja Gaseta“ sorgt für neue Spekulationen im Fall des ermordeten Kreml-Kritikers Boris Nemzow. Am Mittwoch nennt die regierungskritische Zeitung einen gewissen Ruslan als mutmaßlichen Organisator des Anschlags und schreibt von einer Todesliste, auf der sich neben Nemzow und zwei prominenten Journalisten auch der im Ausland lebende Ex-Oligarch Michail Chodorkowski befinden sollen.

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Nicht der verhaftete Saur Dadajew, sondern ein anderer hochdekorierter Ex-Militär aus Tschetschenien sei der mutmaßliche Organisator der Ermordung Nemzows, schreibt das renommierte Blatt. Die „Nowaja Gaseta“ nennt ihn lediglich beim Vornamen Ruslan, erklärt jedoch, dass sein Familienname der Redaktion, aber auch Präsident Wladimir Putin und zahllosen russischen Polizisten und Geheimdienstlern bekannt sei.

Tschetschenischens Präsident Ramsan Kadyrow

Reuters/Maxim Shemetov

Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow im Kreml

Dieser Major, der in der Vergangenheit - wie auch Dadajew - im tschetschenischen Sondereinsatzbataillon „Sewer“ („Nord“) gedient habe, sei bereits am Montag in Grosny einvernommen worden. Die Zeitung schreibt außerdem, dass Ruslan in den vergangenen Jahren für zwei in Moskau tätige Onkel gearbeitet habe. Beide würden als „sehr enge“ Vertraute von Ramsan Kadyrow, Oberhaupt der russischen Teilrepublik Tschetschenien, gelten.

Hohe Putin-Auszeichnung für Kadyrow

Kreml-Chef Putin hatte am Montag Kadyrow mit dem „Orden der Ehre“ ausgezeichnet. Kadyrow hatte wenige Stunden zuvor einen Verdächtigen im Mordfall Nemzow als „wahrhaften Patrioten Russlands“ bezeichnet. Kadyrow war es auch, der den Verdacht auf einen islamistischen Hintergrund lenkte. Er hatte auf Instagram Dadajew als „tiefgläubig“ und als „von den Veröffentlichungen von ‚Charlie‘ (das franz. Satiremagazin ‚Charlie Hebdo‘, Anm.) und der Unterstützung für den Abdruck der Karikaturen schockiert“ bezeichnet. Kadyrow regiert, unterstützt von der Führung in Moskau, Tschetschenien mit harter Hand.

Dass die Auszeichnung „Für Erfolge in gewissenhafter Arbeit und aktive gesellschaftliche Tätigkeit“ nur gut eine Woche nach Nemzows Ermordung erfolge, nannte Kreml-Sprecher Dimitri Peskow „Zufall“. Solche Ehrungen hätten einen langen Vorlauf.

Auch Litwinenko-Verdächtigen ausgezeichnet

Putin zeichnete zudem am Dienstag auch den Abgeordneten Andrej Lugowoi „für Dienste für das Vaterland“ aus. Der Parlamentarier gilt britischen Ermittler als Hauptverdächtiger im Mordfall des 2006 mit dem Strahlengift Polonium 210 vergifteten Ex-Geheimdienstlers und Kreml-Kritikers Alexander Litwinenko. Lugowoi bestreitet das. Russland lehnt seine Auslieferung ab. Auf dem Sterbebett wies Litwinenko die Verantwortung für seine Ermordung direkt dem russischen Präsidenten Putin zu.

Täter „ganz andere Einsätze gewöhnt“

Die vergleichsweise schnelle Verhaftung mutmaßlicher Täter erklärt „Nowaja Gaseta“ mit der Auswertung von Videoüberwachungsmaterial sowie mit detaillierten Zeugenaussagen von Geheimagenten, die den Oppositionspolitiker im Vorfeld einer für den 1. März geplanten Kundgebung beschattet hätten. Damit hätten die Täter, so die Zeitung, höchstwahrscheinlich nicht gerechnet: „Alles spricht dafür, dass die Mörder keine professionellen Killer waren und alle möglichen Fehler begangen haben, weil sie ganz andere Einsätze gewöhnt sind.“

„Weitere Personen auf Todesliste“

Die „Nowaja Gaseta“ schreibt zudem von zumindest drei weiteren gefährdeten Personen. „Es existiert tatsächlich eine Todesliste, auf der sich neben Boris Nemzow, Aleksej Wenediktow (liberaler Chefredakteur des Radiosenders Echo Moskwy, Anm.), Michail Chodorkowski und wahrscheinlich auch Ksenija Sobtschak (liberale Fernsehjournalistin, Anm.) befinden“, heißt es in dem Artikel. Auf jeden Namen dieser Liste sei nicht ein, sondern seien - wie bei Attentätern aus Tschetschenien üblich - wahrscheinlich zwei Killerkommandos angesetzt worden.

Alle kritisierten Kadyrow

Abgesehen davon, dass es sich bei diesen vier Personen um führende Vertreter der russischen Zivilgesellschaft und Opposition handelt, sind alle Genannten in der Vergangenheit mit Kritik an Kadyrow aufgefallen. Ermittlungsdetails seien Mitte vergangener Woche dem russischen Präsidenten präsentiert worden, schreibt die Zeitung, die auch darüber berichtet, dass der Kreml über das Verbrechen in Wurfweite der Kreml-Mauern schockiert gewesen sei.

Der am Mittwoch veröffentlichte Artikel zur Causa Nemzow ist nicht namentlich gezeichnet - als Autor wird lediglich die zeitungsinterne „Abteilung für Investigationen“ angeführt. 2006 hatte ein tschetschenisches Killerkommando die auf Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus spezialisierte Nowaja-Journalistin Anna Politkowskaja in Moskau erschossen - drei Jahre später war mit Natalja Estemirowa eine weitere Mitarbeiterin der Zeitung in Grosny entführt und ermordet worden.

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