Neues Video schwächt offizielle Theorie
Zwei Verdächtige im Mordfall des Kreml-Kritikers Boris Nemzow sind einem russischen Menschenrechtler zufolge möglicherweise bei Vernehmungen gefoltert worden. Bei einem Besuch im Gefängnis habe er bei den Männern Schürfwunden gesehen, die einen ausreichenden Folterverdacht nahelegten, teilte Andrej Babuschkin, Mitglied des Menschenrechtsrats beim Kreml, am Mittwoch in Moskau mit.
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Zuvor war in Agenturmeldungen von nur einem Verdächtigen, der möglicherweise gefoltert wurde, die Rede. Der Hauptverdächtige Saur Dadajew habe sein Geständnis womöglich unter Folter abgegeben, so Babuschkin. Der Tschetschene weise „zahlreiche Verletzungen“ am Körper auf, sagte Babuschkin, der den Hauptverdächtigen am Dienstag in seiner Gefängniszelle besucht hatte.
Man habe deshalb „Grund zu der Annahme, dass Saur Dadajew unter Folter gestanden hat“, sagte Babuschkin am Mittwoch. Der 55-jährige Oppositionspolitiker Boris Nemzow war am 27. Februar auf einer Brücke vor den Mauern des Kreml im Zentrum Moskaus erschossen worden. Die Ermordung des Regierungsgegners löste in Russland und weltweit Bestürzung aus.
Fünf Verdächtige festgenommen
Der frühere Vizeministerpräsident Nemzow war einer der prominentesten Widersacher von Staatschef Wladimir Putin und ein entschiedener Kritiker der russischen Ukraine-Politik. Die russischen Behörden hatten am Wochenende fünf Verdächtige festgenommen. Der Tschetschene Dadajew gestand nach Justizangaben eine Beteiligung an der Tat. Er und ein weiterer Tschetschene wurden wegen Mordes angeklagt und ebenso wie die drei weiteren Verdächtigen in Untersuchungshaft genommen.

Reuters/Tatyana Makeyeva
Das Geständnis Saur Dadajews soll nicht ganz freiwillig erfolgt sein
Die von den Behörden verbreitete Theorie eines islamistischen Hintergrunds wird von Weggefährten Nemzows als absurd zurückgewiesen. Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow hatte den Verdacht auf Islamisten gelenkt, indem er im Sozialen Netzwerk Instagram erklärte: „Alle, die Saur kennen, werden bestätigen, dass er ein tiefgläubiger Mensch ist und dass er - wie alle Muslims - über die Veröffentlichungen von ‚Charlie‘ (die franz. Satirezeitung ‚Charlie Hebdo‘, Anm.) und die Unterstützung des Drucks von Karikaturen schockiert war.“
Islamistentheorie „absurd“
Die Theorie, dass Nemzow von radikalen Islamisten erschossen worden sei, sei „mehr als absurd“, sagte der Oppositionspolitiker Ilja Jaschin am Montag der Nachrichtenagentur AFP. Seiner Meinung nach folgen die Behörden mit ihren Ermittlungen zu islamistischen Motiven einer „politischen Anweisung aus dem Kreml“.
Jaschin war ein enger Vertrauter von Nemzow, beide gründeten zusammen die Solidarnost-Bewegung. Dass Nemzow wegen seiner Unterstützung für das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ ermordet wurde, hält Jaschin für unwahrscheinlich. Nemzow habe „nie negativ über den Islam gesprochen“ und lediglich den Anschlag auf die Redaktionsräume in Paris im Jänner verurteilt.
Nemzow schon im Herbst beschattet?
Diese Ansicht scheinen auch nun über Medien veröffentlichte Videoüberwachungsbilder zu untermauern. Die Moskauer Tageszeitung „Moskowski Komsomolez“ publizierte auf ihrer Website am Dienstagabend das Material, in dem die mutmaßlichen Nemzow-Attentäter im vermeintlichen Tatfahrzeug zu sehen sind. Die Aufnahmen könnten womöglich ein Beweis dafür sein, dass Nemzow schon im Vorjahr beschattet wurde - also lange vor dem „Charlie Hebdo“-Anschlag.
Kurz nachdem die Verdächtigen ihren Pkw im Herbst 2014 gekauft hatten, sei dieser, so die Zeitung, unweit des Wohnsitzes des später ermordeten Politikers registriert worden. Die publizierten Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die einen hellen Kleinwagen mit wahrscheinlich Dadajew als Beifahrer zeigen, seien kurz vor der Tragödie aufgenommen worden, schreibt „Moskowski Komsomolez“ mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen. Die mutmaßlichen Mörder von Nemzow, so heißt es weiter, hätten das später bei der Tat wahrscheinlich verwendete Auto vom Typ ZAZ Chance im September 2014 gekauft.
„Ein zentrales Motiv verschwindet“
Noch im Herbst sei das Fahrzeug zudem unweit von Nemzows Haus in der Ordynka-Straße (im Zentrum Moskaus, Anm.) von Videoüberwachungskameras aufgenommen worden, so die Zeitung. Sie spekuliert darüber, ob das ein bloßer Zufall sei. „Denn wenn man davon ausgeht, dass die Verdächtigen den Politiker bereits damals beschattet haben, verschwindet ein zentrales Motiv: Im vergangenen Jahr war weder ein Anschlag auf ‚Charlie Hebdo‘ verübt worden - noch hatte Nemzow mit seinen diesbezüglichen Äußerungen Moslems erzürnen können.“
„Freilich ist das Verschwörungstheorie. Aber mir scheint, dass manche Geheimdienstler nicht wollen, dass die Mordermittlungen versanden“, sagte Oppositionspolitiker Alexej Nawalny zur Veröffentlichung in der Zeitung „Moskowski Komsomolez“, die sich insbesondere gegen Aussagen von Kadyrow zu wenden scheint.
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