Von Menschen und Grenzen
Für die Österreicher ist das Mittelmeer vor allem eines: die beliebteste Destination für den Sommerurlaub. Zehntausende, die vor Krieg, Armut und Verfolgung fliehen, sehen in dem Meer dagegen vor allem eine Grenze. Für deren Überwindung geben sie zumeist alles, was sie noch haben - und bezahlen im schlimmsten Fall mit dem eigenen Leben.
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200.000 - das ist die Einwohnerzahl einer mittleren österreichischen Großstadt oder aber die Anzahl der Flüchtlinge, die im vergangenen Jahr über das Mittelmeer nach Europa kamen. Ihre Flucht begann in Syrien, Nigeria, dem Sudan oder in Eritrea. Die letzte Etappe über das Meer, in kaum seetüchtigen Booten, starteten die meisten von ihnen aber an der Küste Libyens. Seit der Entmachtung des libyschen Autokraten Muammar al-Gaddafi gibt es keine Schlepperroute im Mittelmeer, die öfter genutzt wird.
Um rund 1.000 Euro versprechen die Schlepper den Flüchtlingen eine Überfahrt nach Europa. Im besten Fall endet diese auf einem Boot der italienischen Küstenwache – im schlimmsten Fall in den Fluten des Mittelmeers. Wie viele Flüchtlinge die Reise nicht überleben, ist kaum abzuschätzen. Die offiziellen Zahlen sprechen für 2014 von 3.500 Toten, immer mit dem Zusatz „mindestens“. Denn die Dunkelziffer liegt weitaus höher. Das Mittelmeer drohe zu einem großen Friedhof zu werden, warnen seit Jahren Menschenrechtler, Politiker und unlängst auch der Papst.
Grabstein oder Rettungsring
Bemüht man dieses makabere Bild weiter, dann wäre die kleine italienische Mittelmeer-Insel Lampedusa wohl ein Grabstein auf diesem Friedhof. Die Insel liegt ziemlich genau auf halbem Weg zwischen Libyen und Sizilien. Von der tunesischen Küste trennen sie sogar nur 140 Kilometer. Geografisch gehört sie damit eher zu Afrika, politisch ist sie Teil der EU - und deshalb eines der beliebtesten Ziele für Flüchtlingsboote. In den Fokus der Aufmerksamkeit rückte die Insel, als am 3. Oktober 2013 in einer Nacht 368 Menschen im Meer vor der Küste ums Leben kamen. Aber auch abseits solch großer Unglücke werden jedes Jahr Dutzende tote Flüchtlinge an die Küsten der Insel geschwemmt.

Reuters/Alessandro Bianchi
Wer in Lampedusa landet, ist vorerst einmal in Sicherheit. Die Zukunft bleibt für die Flüchtlinge aber weiter ungewiss.
Zugleich setzten auf Lampedusa in den vergangenen Jahren Zehntausende Flüchtlinge zum ersten Mal ihren Fuß auf europäischen Boden - und fanden in der Bürgermeisterin Giusi Nicolini eine lautstarke Fürsprecherin. Im November 2012 schrieb sie in einem wütenden Brief gegen die gescheiterte Flüchtlingspolitik der EU und das Sterben im Mittelmeer an. Nicolini wurde seither nicht müde, Europa auf das Versagen vor der eigenen Haustür hinzuweisen. „Für die Menschen, die mit dem Schiff nach Lampedusa aufbrachen, war die Reise ihre letzte Hoffnung. Ihr Tod ist für Europa eine Schande“, heißt es an einer Stelle des Briefs. Vielleicht ist das Bild von Lampedusa als Grabstein doch nicht ganz passend und die Insel eher ein - wenn auch viel zu kleiner - Rettungsring.
Humanitärer Kongress in Wien
Zum dritten Mal fand in Wien der Humanitäre Kongress statt. Veranstaltet wurde er von Ärzte ohne Grenzen, Caritas, dem Roten Kreuz und der Dachorganisation Globale Verantwortung.
Doppelter Vertreter
Vielleicht greifen solche Bilder aber auch einfach zu kurz. „Lampedusa ist schwer zu beschreiben“, sagt Tareke Brhane. Der 31-Jährige arbeitet seit Jahren als Übersetzer und Flüchtlingshelfer auf Lampedusa. Er hatte beim dritten Humanitären Kongress in Wien, der im März stattfand, eine Doppelrolle zu spielen. „Bitte sprich für meine Insel“, habe ihn Nicolini noch am Abend vor dem Kongress am Telefon gebeten. So war der junge Mann mit dem dunklen Lockenkopf in Wien beides: Vertreter Lampedusas und seiner rund 6.000 Einwohner, aber auch eine Stimme für all jene Flüchtlinge, die in der gefährlichen Fahrt über das Mittelmeer die letzte Hoffnung sehen.

ORF.at/Martin Steinmüller
Brhane floh selbst über das Mittelmeer. Jetzt hilft er Flüchtlingen in Lampedusa.
„Proteggere le persone, non i confini“ steht auf seinem T-Shirt: „Schützt die Menschen, nicht die Grenzen.“ Es ist der Slogan des „Komitees des 3. Oktobers“, jener Aktivistengruppe, die sich aus den Überlebenden des Unglücks von 2013 bildete. Brhane ist ihr Sprecher, auch wenn er selbst damals nicht an Bord war, sondern bereits seit Jahren in Italien ist. Seine Fluchtgeschichte beginnt vor mehr als zehn Jahren, als er mit seiner Familie aus Eritrea in den Sudan floh und sich von dort alleine auf den Weg nach Libyen machte.
Er wurde von Schlepper zu Schlepper weitergereicht, musste mit Benzin vermischtes Wasser trinken, wurde regelmäßig geschlagen - um dann am Ende in Tripolis ein altes, heillos überladenes Fischerboot zu besteigen. Das Boot erreichte zwar das offene Meer, aber nie das erhoffte Ziel Europa. Fünf Tage verbrachte Brhane auf offener See, ohne Wasser und Nahrung, dafür zusammengepfercht mit 263 anderen Flüchtlingen. Das maltesische Marineschiff, das sie schließlich aufgriff, übergab sie den libyschen Behörden. Ein Jahr verbrachte Brhane in libyschen Gefängnissen. Als er freikam, hatte er nur ein Ziel: wieder ein Boot Richtung Europa finden.
Verschwendete Gelder
„Die Europäer sehen in den Schleppern nur den Tod. Für uns sind sie unser Reisepass. Wir wissen, sie können uns töten, aber zugleich sind sie die Einzigen, die uns in Sicherheit bringen können“, sagte Brhane. Er ist sich sicher, dass - egal, wie gefährlich die Fahrt über das Mittelmeer ist - die Menschen die Reise riskieren werden. Deshalb sei jeder in den Grenzschutz im Mittelmeer gesteckte Euro ein verschwendeter: „Wenn ich alles verliere, Frau, Kinder, einfach alles, dann lasse ich mich doch davon nicht abschrecken.“
Vielmehr brauche es eine langfristige politische Strategie, an der ganz Europa mitarbeiten müsse. „Am besten wäre es, alle europäischen Entscheidungsträger in Rom zusammenzubringen und sie dann mit einem großen Schiff nach Lampedusa zu bringen“, sagte Brhane. Der direkte Eindruck an Ort und Stelle könnte die Initialzündung für ein europaweites Umdenken sein. Bisher habe er ein solches in Europa noch nicht wahrgenommen - auch nicht in der im November 2014 beendeten italienischen Mittelmeer-Mission „Mare Nostrum“ und schon gar nicht in der „Triton“-Folgemission der EU-Grenzschutzagentur Frontex. „Die Todeszahlen sind trotz ‚Mare Nostrum‘ und ‚Triton‘ gestiegen“, so Brhane.
Brüssel arbeitet an neuer Flüchtlingspolitik
Auf die Frage, wie die politische Strategie am Ende im Detail aussehen müsste, hat auch Brhane keine endgültige Antwort. Doch damit ist er nicht allein. Auch die EU-Politik wirkt in Anbetracht der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer nicht nur unwillig, sondern allzu oft hilflos. Bis Mitte Mai will die EU-Kommission nun eine neue Strategie für die europäische Flüchtlingspolitik präsentieren. Brhane dürfte sie damit kaum glücklich machen.
Martin Steinmüller, ORF.at
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