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„Nicht eine Sekunde lang Reue“

Es ist der 16. Dezember 2012 abends in Neu-Delhi, als eine 23-jährige indische Studentin mit ihrem Freund nach einem Kinobesuch einen Bus mit dunkel getönten Fenstern besteigt, um nach Hause zu fahren. Der 28-jährige Begleiter wurde von den sechs Männern, die zuvor gemeinsam getrunken hatten, mit einer Eisenstange bewusstlos geschlagen. Anschließend vergewaltigten die Männer die Frau etwa eine Stunde lang mit äußerster Brutalität.

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13 Tage später erlag die junge Frau ihren Verletzungen. Der Fall sorgte weltweit für Empörung - ein seit langem bestehendes, tabuisiertes, gesellschaftliches Problem wurde erstmals in Indien zumindest ansatzweise thematisiert. Zum bevorstehenden Frauentag sollte eine Dokumentation über den Fall in Indiens TV-Sender NDTV gezeigt werden, doch ein Gericht untersagte das Dienstagabend. Die Doku „India’s Daughter“ („Tochter Indiens“) wird am Sonntag von BBC ausgestrahlt, am Dienstag ist sie in ORF2 zu sehen.

Das vorläufige indische Ausstrahlungsverbot, das von der Polizei beantragt worden war, erklärten die Richter damit, dass der „anstößige“ Film ein „sehr strittiges Interview“ mit einem der zum Tode verurteilten Vergewaltiger zeige und die öffentliche Ordnung bedrohe. Auch die Veröffentlichung von Ausschnitten aus dem Film und von Zitaten wurde verboten.

„In hohem Maße herabwürdigend“

Innenminister Rajnath Singh verteidigte am Mittwoch im Parlament ausdrücklich die Entscheidung: Die Worte eines der Vergewaltiger in dem Film seien „in hohem Maße herabwürdigend“ und ein „Angriff auf die Würde der Frauen“. Umstritten ist die Doku laut BBC nicht nur wegen der darin enthaltenen Aussagen des Vergewaltigers Mukehs Singh - es gehe auch um die Frage, ob er je eine solche Plattform bekommen hätte sollen, um seine Überzeugungen darzulegen.

Die britische Regisseurin des Films, Leslee Udwin, sprach dagegen von „willkürlicher Zensur“. Udwin zeigte sich überzeugt, dass NDTV das Verbot anfechten werde. Meinungs- und Redefreiheit seien auch in Indien ein hohes Gut, fügte Udwin hinzu. Im Übrigen verhelfe das Verbot ihrem Film nur zu mehr Publicity. Jetzt wollten ihn alle sehen. NDTV äußerte sich dazu zunächst nicht.

Britische Filmemacherin Leslee Udwin

AP/Altaf Qadri

Für Regisseurin Udwin ist das Ausstrahlungsverbot „willkürliche Zensur“

„Machen wir uns nichts vor“

Anu Agha, Geschäftsfrau und Mitglied der Zweiten Kammer des indischen Parlaments, sagte, ein Verbot der Dokumention sei „keine Antwort“. „Was der Vergewaltiger sagte, ist die Ansicht vieler Männer in Indien. Machen wir uns doch nichts vor.“ Der indische Drehbuchautor Javed Akhtar, ebenfalls Abgeordneter, sagte, es sei gut, „dass dieser Film gemacht worden ist und dass er aufdecken wird, dass viele Männer ebenso denken wie der Vergewaltiger“.

„Mädchen sollen sich um Haushalt kümmern“

In dem Dokumentarfilm kommt einer der Vergewaltiger ausführlich zu Wort. In dem im Gefängnis geführten, verstörenden Interview gibt Singh dem Opfer die Schuld an der Tat. Eine Frau sei „weitaus mehr verantwortlich für eine Vergewaltigung“ als ein Mann. Die Studentin hätte „nicht abends um 21.00 Uhr herumstreunen“ sollen. Nach Angaben von Filmemacherin Udwin zeigte der Mann „nicht eine Sekunde lang Reue“. Aktivisten zufolge sind derartige Auffassungen tief in der indischen Gesellschaft verankert.

„Mit einer Hand kann man nicht klatschen - dazu braucht es zwei Hände“, sagte der Vergewaltiger, der das Opfer auch beschuldigte, die falschen Kleider getragen zu haben. „Mädchen sollten sich um den Haushalt kümmern und sich nicht in Discos und Bars herumtreiben“, sagte er. Der Vergewaltiger sagte in dem Interview weiter, die Studentin wäre noch am Leben, wenn sie sich nicht gewehrt hätte. „Sie hätte einfach ruhig sein sollen und die Vergewaltigung geschehen lassen. Dann hätten wir sie abgesetzt, nachdem wir mit ihr fertig waren.“

Laut Anklage waren alle Verurteilten an der Vergewaltigung beteiligt und hätten sich beim Lenken des Busses abgewechselt. Der interviewte Vergewaltiger behauptet dagegen, er sei die ganze Zeit am Lenkrad gesessen. Singh hat, so wie die anderen Verurteilten Berufung gegen das Todesurteil eingelegt. Sein Bruder Ram Singh wurde ebenfalls verurteilt, starb aber vor Beginn des Prozesses im Gefängnis.

Tabuthema aufgebrochen

Während die Politik nach Bekanntwerden der Gruppenvergewaltigung tagelang schwieg und versuchte, das Thema auszusitzen, brachte der brutale Fall viele der grundlegenden sozialen Probleme - insbesondere die Entrechtung von Frauen und das Kastensystem und seine Folgen - so offen ans Tageslicht, dass sich wochenlange Massenproteste gegen die alltägliche Gewalt gegen Frauen entzündeten. Auch die fragwürdige Rolle der Polizei, die bei Vergewaltigungsanzeigen laut Kritikern oft gar nicht oder äußerst schlampig ermittelt, wurde damals Thema. In der Folge wurden auch die Gesetze zur Verurteilung von Vergewaltigern verschärft. Aktivisten beklagen jedoch, es habe sich nur wenig geändert.

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