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„90 Prozent“ haben IS-Terror selbst erlebt

Auf den ersten Blick erscheint die Al-Hekma-Schule in Erbil (Region Kurdistan-Irak) wie eine normale Bildungseinrichtung. Doch die über 1.000 Schüler im Alter zwischen sechs und 17 Jahren haben eines gemein: Nahezu alle waren direkt Zeuge von Gräueltaten der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Im Rahmen des vielbeachteten Pilotprojekts gilt es nun, die erlebten traumatischen Ereignisse zu bewältigen.

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Auch wenn aus Expertensicht außer Frage steht, dass neben Bildung auch eine psychosoziale Betreuung bei humanitären Katastrophen von zentraler Bedeutung ist, fehlen dafür - angesichts der selbst für grundlegende Nothilfe fehlenden Mittel - häufig schlichtweg die notwendigen Ressourcen. Im Rahmen des Projekts IBTISAM gelang es dennoch, das Gesundheitsministerium der kurdischen Regionalregierung und ein Krankenhaus in Erbil mit ins Boot zu holen und an mehreren Schulen zumindest eine Grundversorgung in Sachen Traumabewältigung aufzubauen.

Schüler in Schule in Erbil

ORF.at/Peter Prantner

Der Großteil der Al-Hekma-Schüler hat IS-Gräueltaten selbst gesehen

Mit dem Projekt betraut ist die italienische Partnerorganisation von Caritas-Österreich, Un Ponte Per (UPP), die sich nun um Maßnahmen wie die Bereitstellung von Sozialarbeitern und eine spezielle Schulung der Lehrer kümmert, um mögliche psychische Erkrankungen zu erkennen und bei Bedarf auch die notwendigen Hilfsmaßnahmen einzuleiten. Mögliche Härtefälle gibt es in den insgesamt fünf seit August betreuten Schulen jedenfalls genug - „90 Prozent haben Tötungen, Explosionen und Entführungen selbst gesehen“, wie der Direktor der Al-Hekma-Schule, Sirak Abb Abbas bei einem ORF.at-Lokalaugenschein verdeutlicht.

Schule in Erbil

ORF.at/Peter Prantner

Schuldirektor Sirak Abb Abbas

Gemeinsamer Unterreicht für Christen und Muslime

Abseits davon, dass für viele Flüchtlingskinder angesichts der schieren Masse an Hilfesuchenden selbst ein herkömmlicher Schulbesuch ein Privileg darstellt, steht in der Al-Hekma-Schule nun einmal pro Woche und Klasse auch eine von geschulten Psychologen begleitete Unterrichtsstunde auf dem Programm. Auf die Folgeerscheinungen von Trauma und Stress sensibilisiert ist aber nicht zuletzt der gesamte, teils ebenfalls aus Flüchtlingen rekrutierte Lehrkörper.

Hervorgehoben wird aber auch, dass es - wie in der Region üblich - zwar nach Geschlechtern getrennte Unterrichtseinheiten gibt und damit die Burschen am Vormittag und Mädchen am Nachmittag zur Schule gehen. Die Konfession und Herkunft spiele aber keine Rolle. In der Al-Hekma-Schulen finden sich somit Christen mit Muslimen gemeinsam in einer Klasse - zudem stammt rund die Hälfte der Schüler aus Syrien, der Rest aus den vom IS eroberten Gebieten im Irak.

Schule in Erbil

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Der Psychologe Karsan Dschalal (rechts) im Gespräch mit einer Lehrerin

Erste Erfolge

Laut Karsan Dschalal von Erbils Hawler Psychiatric Hospital, der für das Projekt von medizinischer Seite verantwortlich ist, trägt das laufende Projekt bereits erste Früchte. Wurden anfangs noch „viele, viele Probleme wie Hyperaktivität, aggressives Verhalten, Konzentrationsschwächen und Schulverweigerung“ festgestellt, seien diese nun bereits spürbar zurückgegangen. Erklärtes Ziel sei es nun, ähnliche Projekte in so viele Flüchtlingsschulen wie möglich zu integrieren. Dschalal meint, allein das bereits von etlichen Hilfsorganisationen bekundete Interesse zeuge davon, dass mit IBTISAM wichtige Pionierarbeit geleistet werde.

Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

Die Al-Hekma-Schüler haben laut der in dem Projekt ebenfalls federführend mitarbeitenden Psychologin Nas Ahmed Baban jedenfalls mit vielen anderen Flüchtlingskindern gemein, dass sie ihre Angst nicht zurücklassen konnten und „den ganzen Tag mit Krieg konfrontiert“ seien. Im Rahmen des Pilotprojekts gehe es nun vor allem darum, ein Sicherheitsgefühl zu vermitteln, die vielfach verloren gegangene Fähigkeit aufzubauen, anderen Menschen vertrauen zu können und auch Zukunftsperspektiven zu geben.

Kind malt in Schule in Erbil

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Die Schüler sollen sich etwa mit dem Zeichnen von Bäumen gezielt mit den Themen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschäftigen

Kernpunkt der angewandten Methode ist laut Dschalal der gezielte Umgang mit den Themen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In der Praxis umgesetzt wird das mit teils simpel anmutenden Mitteln - etwa der Aufforderung an die Schüler, drei Bäume zu den drei genannten Zeitabschnitten zu zeichnen. Von den Psychologen von Interesse und für Rückschlüsse wertvoll sei dann etwa die Farbwahl, ob ein Baum mit bzw. ohne Blätter gezeichnet wurde, aber auch, wie die Schüler mit der Aufgabenstellung grundsätzlich umgehen.

Schule in Erbil

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In vielen Lagern sind praktische Ärzte direkt präsent - auch diese sind auf die Erkennung von Folgeerscheinungen von Trauma und Stress sensibilisiert

Psychosoziale Betreuung auch für Erwachsene

Die Notwendigkeit psychosozialer Programme besteht den diversen an Ort und Stelle tätigen Hilfsorganisationen zufolge aber auch abseits von Schulen. Auch wenn der Fokus etwa bei UPP auf der Betreuung von Kindern liegt, werden auch viele in den Flüchtlingslagern gelandete Erwachsene mit ihren traumatischen Erlebnissen meist allein gelassen. Eingestanden wird, dass eine vollständige Abdeckung angesichts der großen und nach wie vor steigenden Zahl nicht möglich sei. Auch hier gelte es somit, zumindest Härtefälle erkennen zu können, weswegen etwa auch im Gesundheitszentrum des 10.000 Bewohner umfassenden Kawergosk-Camps nahe Erbil eine eigene psychologische Abteilung eingerichtet wurde.

Flüchtlingscamp in Erbil

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Das Gesundheitszentrum im Kawergosk-Camp ist für 10.000 Flüchtlinge zuständig

Mobile Teams sind zudem in den zahllosen weiteren Flüchtlingsunterkünften der Autonomen Region Kurdistan im Einsatz. Auch bei der von der kurdischen Hilfsorganisation Al-Mesalla angebotenen ärztlichen Grundversorgung für die in den Rohbauten rund um Erbil gestrandeten Flüchtlinge wird - um ein weiteres Beispiel von vielen zu nennen - immer stärker ein Auge auf die psychologische Verfassung der Patienten gelegt. Außer Frage gestellt werden jedoch auch die Grenzen des psychosozialen Engagements: Allein die zunehmende Beschäftigung mit dem Thema und die laufenden Projekte seien demnach wichtige Schritte in die richtige Richtung - bei Flüchtlingszahlen weit über der Millionengrenze handelt es sich dennoch nur um den sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein.

Peter Prantner, ORF.at

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