„Wir sind auf der sicheren Seite“
Obwohl mitten in einer krisengeplagten Region gelegen, gelten die Kurdengebiete im Norden des Irak selbst in Zeiten der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) weitgehend als sicher. An der nur unweit der Hauptstadt Erbil liegenden Front wurde bisher jede IS-Offensive erfolgreich zurückgedrängt - das Land ist dennoch Schauplatz einer humanitären Katastrophe.
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Auf einer Fläche halb so groß wie Österreich befinden sich neben den 4,8 Millionen Einwohnern mittlerweile bis zu 1,6 Millionen Flüchtlinge in den von den Kurden selbst verwalteten Gebieten. Rund 900.000 davon sind Binnenflüchtlinge und stammen somit aus dem Irak selbst, der Rest floh aus dem benachbarten Syrien, unter anderem aus der im Kampf gegen den IS vollständig zerstörten Stadt Kobane. Häufig vergessen wird aus Sicht von Hilfsorganisationen, dass Syrien bereits seit vier Jahren auch Schauplatz eines blutigen Bürgerkrieges ist und es auch 230.000 Menschen zu versorgen gilt, die bereits vor dem IS-Vormarsch Schutz in der Autonomen Region Kurdistan suchten.

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10.000 Menschen leben allein im Flüchtlingslager Kawargosk
Immer wieder IS-Offensiven
Spätestens seit Juni des Vorjahres dominiert auch hier die Angst vor dem IS die Schlagzeilen. Vor allem Angehörige der zahlreichen irakischen Minderheiten strömten nach der IS-Machtübernahme in Mossul und der Ausrufung eines Kalifats in mehreren Wellen in den vermeintlich sicheren Hafen. Derzeit scheint der Flüchtlingsstrom zwar gebremst. Der Grund dafür findet sich aber keineswegs in einer Entspannung der Lage, sondern schlicht in der Tatsache, dass die nahe gelegene Front weitgehend abgeriegelt ist und es derzeit auch für Hilfesuchende kein Durchkommen gibt.
Gleichzeitig wird bereits die nächste große Flüchtlingswelle befürchtet: Noch für dieses Jahr plant die irakische Armee gemeinsam mit den Peschmerga und internationaler Unterstützung eine Offensive gegen den IS in Mossul und niemand wagt derzeit abzuschätzen, wie viele Menschen dann Zuflucht in der nahe gelegenen Kurdenregion suchen werden.

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Neben Zeltlagern finden sich auch in Rohbauten etliche Flüchtlingsunterkünfte
Immer wieder versuchen IS-Kämpfer aber auch, den von den kurdischen Peschmerga gehaltenen Schutzwall zu durchbrechen. Nur 40 Kilometer von Erbil entfernt wurde eine der jüngsten IS-Offensiven abgewehrt. Dennoch zeigte sich am Tag darauf für ORF.at, das von der Caritas Österreich zum Lokalaugenschein eingeladen wurde, in Erbil nicht das Bild einer unmittelbar an der Front liegenden Stadt. „Wir sind hier auf der sicheren Seite“, versicherte in diesem Zusammenhang auch der an Ort und Stelle tätige Caritas-Schweiz-Mitarbeiter Lukas Voborsky, der gleichzeitig aber beteuerte, dass sich die Lage jederzeit schlagartig verändern könnte.
Evakuierungsplan für Flüchtlingslager
Die sich stetig verändernde Frontlinie stellt jedenfalls auch die Hilfsorganisationen vor große zusätzliche Herausforderungen. Immer wieder müssen etwa umständliche Umwege in Kauf genommen werden. Teilweise nur wenige Kilometer von der Frontlinie entfernt, müssen zudem auch Flüchtlingslager im Fall der Fälle so schnell wie möglich geräumt werden - die Rede ist von Tausenden Menschen und einem Zeitraum von wenigen Stunden.

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Das Leben in den Lagern wird von den Flüchtlingen vielfach selbst organisiert - außerhalb gibt es allerdings kaum Aussicht auf Arbeit
„Rückkehr steht derzeit nicht in Aussicht“
Mit der drohenden Gefahr haben die Flüchtlinge aber offenbar zu leben gelernt. Wenn der IS kommt, dann könne man ohnehin nichts mehr machen, so die nüchtern anmutende Antwort eines mehrfachen Familienvaters, der zusammen mit 10.000 weiteren syrischen Flüchtlingen bereits vor Monaten in dem vor Erbil gelegenen Flüchtlingscamp Kawargosk untergekommen ist. Nicht die als „normal“ empfundene Angst vor dem IS prägt die Stimmung in den Flüchtlingslagern - desillusioniert zeigt man sich vielmehr angesichts fehlender Zukunftsperspektiven. Marco Labruna von der Caritas-Partnerorganisation Un Ponte Per (UPP) bringt die Problematik auf den Punkt: Erklärtes Ziel sei für viele Flüchtlinge zwar eine baldige Rückkehr nach Hause - „diese steht derzeit aber nicht in Aussicht“.

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Warten und Zeit totschlagen: An eine schnelle Rückkehr glaubt in Erbils Flüchtlingslagern niemand
Größte Herausforderung ist und bleibt es somit, die in Erbil, Dohuk und anderen Orten Gestrandeten nicht nur mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen, sondern ihnen auch Perspektiven zu geben. Mittels psychosozialer Projekte gilt es aber auch, die erlebten traumatischen Ereignisse zu bewältigen - immer wieder sprachen die Flüchtlinge gegenüber ORF.at von IS-Gräueltaten, ermordeten und vermissten Angehörigen und dem über Nacht zurückgelassenen Hab und Gut.
Zeltlager, Rohbauten, Wohnwagen
Thema ist aber auch der triste Alltag in den zahllosen Notunterkünften. Zusammengepfercht in Zeltlagern und zu Flüchtlingsunterkünften umfunktionierten Häusern und Rohbauten bleibt vielen Flüchtlingen häufig nichts anderes übrig, als abzuwarten - Arbeit ist angesichts der herrschenden Krise in der auch wirtschaftlich angeschlagenen Kurdenregion Mangelware.

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Unterkunft für über 1.600 Menschen: Die Ankawa-Mall in Erbil
Für die zahlreichen an Ort und Stelle befindlichen Hilfsorganisationen stellt unterdessen bereits die logistische Versorgung der Camps ein kaum noch zu bewältigendes Unterfangen dar. Allein in und um Erbil wurden bisher über 500 Häuser und Wohnungen für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt. Dazu kommen etliche Containerlager und Hunderte Wohnwagen sowie das an sich noch in Bau befindliche Ankawa-Einkaufszentrum, in dem 419 Familien und damit 1.693 Personen Unterschlupf gefunden haben.
Europas „moralische Pflicht“
Dank der Kooperation diverser Hilfsorganisationen und der Schirmherrschaft des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) und der kurdischen Regierung ist die Lage laut Angaben der Leitung des größten Flüchtlingslagers der Stadt zwar weitgehend unter Kontrolle. Wie viele andere machen die Helfer aber auch hier kein Hehl daraus, dass die laufende Krise nur mit mehr internationalem Engagement zu bewältigen sei.

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Eine Containersiedlung in Erbils Vorstadt Ankawa
Angesprochen werden damit aber nicht nur anhaltende Engpässe bei der dringend benötigten humanitären Hilfe - auch im Kampf gegen den IS wird der Internationalen Gemeinschaft ein zu zögerliches Handeln vorgeworfen. Deutliche Worte findet hier Erbils Erzbischof Baschar Matti Warda, demzufolge der IS nur mit einer Ausweitung der militärischen Mittel zu bezwingen sei.
Außer Frage stehe dabei, dass man ein „globales Phänomen“ wie dieses nicht allein den Peschmerga überlassen könne und dass auch die irakischen Streitkräfte der Terrormiliz offensichtlich nicht gewachsen seien. In einer „moralischen Plicht“ sieht er vielmehr Amerika und Europa - von dort stammt Warda zufolge schließlich auch ein Teil der zu besiegenden IS-Kämpfer, und allein aus diesem Grund sei es nun auch für deren Herkunftsländer an der Zeit, „sich zu bewegen“.
Peter Prantner, ORF.at, aus Erbil
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