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Mehr Vollmachten gegen Demonstranten

Raufereien im türkischen Parlament sind zwar grundsätzlich keine Seltenheit. Ein neuer AKP-Gesetzesentwurf zur Erweiterung der Polizeivollmachten lässt die Gemüter aktuell allerdings verstärkt hochkochen. Erst vor zwei Tagen wurden zwei Mandatare krankenhausreif geschlagen, zuvor waren Sessel, Wassergläser und Akten geflogen. Nun kam es erneut zu Handgreiflichkeiten.

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Abgeordnete der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan und der Opposition gingen in der Nacht auf Freitag zum zweiten Mal innerhalb von nur 48 Stunden mit Fäusten aufeinander los. Der Fernsehsender CNN Türk strahlte Handyaufnahmen aus, auf denen zu sehen ist, wie ein Abgeordneter der größten Oppositionspartei CHP dabei eine Wendeltreppe in der Mitte des Sitzungssaals hinunterstürzt. Laut der Zeitung „Hürriyet“ schrieb er kurze Zeit später via Twitter: „Mir geht es gut. Ich werde hier bleiben und den Kampf fortsetzen.“

Raufende Parlamentsabgeordnete

Reuters

Der Sturz des CHP-Abgeordneten

Bereits in der Nacht auf Mittwoch war es im Parlament zu einer Schlägerei gekommen, bei der Parlamentarier unter anderem mit Sesseln und Wassergläsern warfen. Fünf Abgeordnete wurden dabei verletzt - Video dazu in iptv.ORF.at. Die Debatte soll bis zum Wochenende abgeschlossen sein.

Festnahmen ohne vorherigen Richterbeschluss

Die Debatte über das Gesetzespaket, das von der AKP ins Parlament eingebracht wurde, hatte am Dienstag begonnen. Es sieht deutlich mehr Befugnisse für die Polizei und eine Verschärfung des Demonstrationsrechts vor. So sollen unter anderem Sicherheitskräfte leichter von Schusswaffen Gebrauch machen dürfen, wenn bei Protesten Brandsätze geschleudert werden. Ein weiterer Passus soll der Polizei künftig erlauben, Menschen von Versammlungsorten zu entfernen, die „ihre eigene Sicherheit oder die Sicherheit anderer gefährden“.

Raufende Parlamentsabgeordnete

Reuters

Gerangel im Parlament in Ankara

Auch sieht der Entwurf vor, dass Festnahmen bei ungenehmigten Demonstrationen bis zu 24 Stunden, im Falle einer „schweren Bedrohung der öffentlichen Ordnung“ 48 Stunden ohne Richterbeschluss möglich sind. Für Abhörmaßnahmen soll in Zukunft ebenfalls bis zu 48 Stunden im Nachhinein eine Genehmigung eingeholt werden können. Die Pläne enthalten zudem ein Vermummungsverbot, das selbst bei einer Teilbedeckung des Gesichts mit einem Schal Haftstrafen von bis zu fünf Jahren vorsieht, wenn eine Kundgebung von den Behörden als Unterstützungsveranstaltung für eine Terrororganisation eingestuft wird.

Drei Jahre Haft für Tragen einer Steinschleuder

Harte Kritik kommt von der Opposition. Sie warnt über Parteigrenzen hinweg vor einem Polizeistaat. Die laizistische CHP kritisierte als stärkste Oppositionsgruppe im Parlament, dass die Polizei laut dem Gesetzesentwurf künftig ohne konkreten Tatverdacht auch unbescholtene Demonstrationsteilnehmer festnehmen könne.

Zudem sehe der Entwurf für das Mitführen einer Steinschleuder bei einer Kundgebung eine Strafe von mehr als zwei Jahren Haft vor, während das Tragen einer Pistole mit nur einem Jahr Haft oder einer Geldstrafe geahndet werden solle. Die CHP erklärte, der Regierungsentwurf enthalte mehrere Verfassungsverstöße. Die Regierung hingegen argumentiert, die Maßnahmen würden durch neue Vorschriften zur Kontrolle von Polizeiaktionen ausbalanciert.

Kritik von Europarat und Reporter ohne Grenzen

Der Europarat kritisierte das geplante neue Demonstrationsstrafrecht in der Türkei wegen möglicher Menschenrechtsverletzungen. Statt Exzesse der Sicherheitskräfte zu bekämpfen, gebe der Gesetzesentwurf der Polizei offenbar noch mehr Vollmachten, erklärte der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muiznieks, auf Facebook. Auch rund 3.000 Anwälte protestierten am Montag vor dem Parlamentsgebäude von Ankara gegen das Vorhaben.

Auch die NGO Reporter ohne Grenzen (ROP) bemängelt die geplante Verschärfung und sieht mehr Möglichkeiten für Polizeiwillkür. „Journalisten in der Türkei sind schon jetzt ständigen Übergriffen der Polizei ausgesetzt“, kritisierte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Polizeiexzesse sollten verfolgt und nicht erleichtert werden. Die Türkei braucht nicht zuletzt im Interesse der Pressefreiheit mehr rechtsstaatliche Aufsicht statt noch weniger davon.“

Ganze Reihe umstrittener Gesetzesreformen

Das aktuelle Reformvorhaben reiht sich in eine Serie repressiver Gesetze in jüngster Zeit ein. So beschloss das Parlament im vergangenen April, die Befugnisse des Geheimdienstes MIT zu erweitern. So bekam der MIT weitgehend freie Hand für Spionageaktivitäten im In- und Ausland. Dazu gehören das Abhören von Privattelefonaten und das Sammeln von geheimdienstlichen Erkenntnissen mit Bezug auf „Terrorismus und internationale Verbrechen“. Bisher war für jeden Fall eine gerichtliche Genehmigung erforderlich. Zudem wurden Gefängnisstrafen für Journalisten eingeführt, die vertrauliche Geheimdienstinformationen veröffentlichen.

Im Februar und September 2014 verabschiedete Reformen des türkischen Internetgesetzes haben die Behördenbefugnisse für die Überwachung und Zensur im Netz erweitert. Ein neues Justizgesetz verstärkte den Einfluss der Regierung auf die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten.

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