Nur schwer erkennbarer „Fortschritt“
Gemäß der seit dem Wochenende geltenden Waffenruhe sollten schwere Waffen aus der Ukraine abgezogen werden. Stattdessen gab die ukrainische Armee nach heftigen Gefechten die strategisch wichtige Stadt Debalzewe auf. Damit steht das Abkommen von Minsk erneut auf der Kippe.
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Aus Deutschland und Frankreich - die beiden Staaten vermitteln zwischen den prorussischen Separatisten und der Regierung in Kiew - hieß es, der Friedensplan sei durch die Kämpfe „belastet“, aber „nicht tot“. Frankreich werde im Gegenteil „alles tun, um dieses Abkommen mit Leben zu erfüllen“, sagte Regierungssprecher Stephane Le Foll am Mittwoch.
Paris bewertete die Kämpfe an dem Eisenbahnknoten als „eine Anwendungsschwierigkeit“ bezüglich eines konkreten Punktes. „Wir werden weitermachen, wir wissen, dass wir Probleme haben, wir wissen, dass nicht alles geregelt ist“, so Le Foll. Es gebe seit dem Minsker Abkommen aber einen „Fortschritt“. Auch die USA halten das Abkommen noch nicht für gescheitert. „Wir erachten es nicht als tot“, sagte die Außenamtssprecherin Jen Psaki am Mittwoch in Washington. „Wir konzentrieren uns weiter auf die Umsetzung der Einigung.“
Strategisch wichtige Stadt aufgegeben
Schärfer fiel eine Stellungnahme aus Berlin aus. Der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert verurteilte den Vorstoß der Rebellen auf das Schärfste und warf ihnen vor, die Waffenruhe „massiv verletzt“ zu haben. Es sei „eine schwere Belastung für das Abkommen wie für die Friedenshoffnungen für die Ostukraine insgesamt“, sagte Seibert. Den Friedensplan wollte aber auch er noch nicht für gescheitert erklären. Weitere Sanktionen gegen Russland und die Rebellen schließt die deutsche Regierung nicht aus.
Warum Debalzewe so wichtig ist
In Debalzewe liegt eine wichtige Kreuzung von Verkehrsadern. Die 26.000-Einwohner-Stadt befindet sich etwa in der Mitte zwischen den Separatistenhochburgen Donezk und Lugansk. Durch die Stadt verläuft die Verbindungsstraße zwischen den beiden Städten. Eine andere Straße führt in die russische Stadt Rostow am Don. Über sie wird die Versorgung der Separatisten mit Proviant, Waffen und Munition abgewickelt.
Zuvor hatte am Mittwochnachmittag der ukrainische Präsident Petro Poroschenko den Abzug der Streitkräfte aus Debalzewe bekanntgegeben. „Heute Früh haben die ukrainischen Streitkräfte mit der Nationalgarde die geplante Operation zur Evakuierung unserer militärischen Einheiten aus Debalzewe abgeschlossen“, so Poroschenko. Die Truppen hätten das Gebiet „organisiert“ verlassen. Damit räumte der Präsident erstmals ein, dass das ukrainische Militär den Kampf um Debalzewe verloren hat. Der Verkehrsknotenpunkt zwischen den selbst erklärten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk war am Dienstag trotz der seit dem Wochenende geltenden Waffenruhe von den prorussischen Rebellen großteils eingenommen worden. Zuletzt war von mehreren tausend eingekesselten ukrainischen Soldaten in der Stadt die Rede gewesen.
Putin attackiert Westen
Nur Stunden vor dem Rückzug der ukrainischen Truppen hatte Russlands Staatschef Wladimir Putin Kiew zum Rückzug aufgefordert. „Ich hoffe, dass die ukrainischen Behörden die Soldaten nicht davon abhalten, ihre Waffen niederzulegen“, sagte er bei einem Staatsbesuch in Budapest. Dann würde die vergangene Woche vereinbarte Waffenruhe auch Bestand haben.
Der Ukraine-Konflikt könne nicht militärisch gelöst werden, so Putin. Zugleich warf er dem Westen vor, die Ukraine mit Waffenlieferungen zu unterstützen. Moskau verfüge über entsprechende Informationen. Aus Russland gelangen laut westlichen Angaben seit langem große Mengen Kriegsgerät und auch Kämpfer zu den Separatisten.

APA/ORF.at
Die NATO zeigte sich tief besorgt über die sich verschlechternde Lage um Debalzewe. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg forderte von Russland den „Abzug all seiner Truppen“ sowie ein Ende der „Unterstützung für die Separatisten“ und die „Einhaltung der Minsker Vereinbarung“, sagte Stoltenberg in der lettischen Hauptstadt Riga.
Die EU warf den Rebellen einen Bruch der Waffenruhe vor. Das Vorgehen „durch die von Russland unterstützten Separatisten“ in der Stadt Debalzewe sei „eine klare Verletzung der Waffenruhe“, sagte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini in Brüssel. Mogherini forderte, die Kiew-Gegner müssten „alle militärischen Aktivitäten stoppen“. Sollten die Kämpfe anhalten, sei die EU zu einer „angemessenen“ Reaktion bereit, erklärte Mogherini. Die Europäer haben in dem Konflikt schon eine Reihe von Sanktionen verhängt.
Lawrow warnt vor Waffenlieferungen
Der russische Außenminister Sergej Lawrow warnte den Westen erneut vor Waffenlieferungen an die Ukraine. Die Lage in Debalzewe dürfe nicht zu einem Vorwand werden, den Friedensprozess scheitern zu lassen, sagte Lawrow in Moskau. Poroschenko hatte in einem Telefonat mit US-Vizepräsident Joe Biden laut Angaben aus Kiew erneut um Unterstützung mit Militärtechnik gebeten.
Biden hatte Russland und den Separatisten bereits am Dienstag einen Bruch der Waffenruhe vorgeworfen. Die Kämpfer agierten „in und um die Stadt Debalzewe im Einklang mit den russischen Kräften“, so Biden. In einem Telefonat mit Poroschenko drohte er, Russland werde einen „höheren Preis“ zahlen, sollte es weiterhin die Minsker Vereinbarung missachten.
UNO-Sicherheitsrat fordert Feuerpause
Der UNO-Sicherheitsrat rief am Mittwochabend alle Seiten des Konflikts auf, die Ergebnisse des Minsker Gipfels (Minsk II) zu respektieren und umzusetzen, hieß es in einer von den 15 Mitgliedern am Dienstag in New York einstimmig verabschiedeten Resolution. Ausgerechnet Russland hatte den Entwurf eingebracht. Westliche Diplomaten werteten die Verabschiedung als Erfolg, weil sich der Sicherheitsrat darin erstmals ausdrücklich zu den Minsker Ergebnissen bekennt.
Kaum eine Alternative zu Minkser Abkommen
In Analysen hieß es am Mittwoch, es gebe in Wahrheit für die beteiligten Seiten kaum eine Alternative zum Minsker Abkommen. Poroschenko stehe innenpolitisch unter Druck, das nationalistische Lager und möglicherweise auch Ministerpräsident Arseni Jazenjuk würfen ihm eine zu nachgiebige Haltung gegenüber Russland vor. Andererseits zeige gerade Debalzewe allen Verantwortlichen in Kiew, wie schwach die ukrainische Armee sei.
Poroschenko müsse auch mögliche Schäden für die Ukraine durch eine weitere Eskalation minimieren - zumindest bis sich das im wirtschaftlichen Niedergang befindliche Land wieder gefangen habe. Erst am Dienstag hatte das Statistikamt in Kiew angegeben, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Oktober bis Dezember 2014 um 15,2 Prozent eingebrochen sei. Ohne ein Ende der Kämpfe in der Ostukraine gibt es keine Aussicht auf einen Aufschwung oder gar ausländische Investitionen.
Der Bruch des Waffenstillstands stellt aber auch für das deutsch-französische Vermittlerduo, Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Francois Hollande, sowie US-Präsident Barack Obama ein Problem dar: Alle hatten die Minsker Vermittlungsversuche als bessere Alternative etwa zu amerikanischen Waffenlieferungen dargestellt. Jetzt werden bereits wieder Rufe laut, man solle Kiew Waffen liefern.
Poroschenko will EU-Mission mit UNO-Mandat
Zur Lösung des Konflikts schlug Poroschenko am Mittwoch eine mögliche internationale Mission vor. „Ich rege an, die Einladung einer UNO-Friedensmission zu diskutieren, die gemäß einem Mandat des Weltsicherheitsrats handeln wird - das für uns beste Format ist eine Polizeimission der Europäischen Union“, sagte der prowestliche Staatschef nach Angaben des TV-Senders Fünfter Kanal bei einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats in Kiew. Das Gremium habe Poroschenko für entsprechende Gespräche mit der UNO und der EU grünes Licht gegeben, sagte der Sekretär des Sicherheitsrats, Alexander Turtschinow.
Blauhelmsoldaten wie sie sonst mit UNO-Mandat weltweit vielerorts im Einsatz sind, seien nicht gemeint. Solche Vorschläge aus Moskau hatte die Regierung in Kiew bereits zuvor abgelehnt. Moskau wiederum hatte Vorbehalte gegen eine EU-Mission geäußert, weil die EU parteiisch in dem Konflikt sei. Poroschenko sagte, er habe vergangene Woche in Minsk bereits mit Merkel, Putin und Hollande über eine mögliche internationale Mission gesprochen. „Falls der Sicherheitsrat zustimmt, beginnen wir Gespräche“, betonte er.
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