„Der Alltag als Überlebenskampf“
Von einer Waffenruhe in der Ostukraine ist mittlerweile keine Rede mehr - nahezu täglich werden Kämpfe zwischen der ukrainischen Armee und den prorussischen Separatisten gemeldet, die Zahl der Todesopfer stieg im Jänner auf über 5.000, die humanitäre Lage im Krisengebiet ist katastrophal. Große Teile der Infrastruktur sind zerstört, viele Schulen, Krankenhäuser und soziale Einrichtungen wurden geschlossen.
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Durch den kalten Winter hat sich die Situation noch verschlimmert - die Versorgungslage wird immer schlechter. Mittlerweile fliehen die Menschen aus den Gegenden um Donezk und Lugansk nicht nur vor den Gefechten, sondern auch vor Armut und Kälte. Laut einem aktuellen EU-Report sind über 630.000 Menschen innerhalb der Ukraine auf der Flucht. Etwa ein Drittel dieser Binnenflüchtlinge sind Kinder.
Flüchtlinge im eigenen Land
Binnenflüchtlinge, auch IDP’s (Internally Displaced Person), überschreiten bei ihrer Flucht, im Gegensatz zu Flüchtlingen im rechtlichen Sinne, keine Staatsgrenze.
Ohne Heizung bei bis zu minus 30 Grad
Doch auch im Rest der Ukraine ist die Situation teils dramatisch: Tausende alte Menschen und sozial schwache Familien leben bei Temperaturen von bis zu minus 30 Grad in Wohnungen ohne Strom, Gas und Heizung, weil sie die Rechnungen nicht begleichen können. Jeden Winter erfrieren Dutzende Menschen in ihren eigenen Wohnungen.
Dennoch ist die Solidarität mit den Menschen, die aus dem Kriegsgebiet im Osten flüchten, groß - etwa in der Hauptstadt Kiew. Trotz immer wiederkehrender Gerüchte über bevorstehende Anschläge in der U-Bahn oder in Einkaufszentren ist es hier seit dem Ende der blutigen Straßenkämpfe auf dem Maidan im vergangenen Februar relativ ruhig. Im Bezirk Darnitsa leben an die 300.000 Menschen, großteils in Plattenbausiedlungen.
Die Arbeitslosigkeit in Darnitsa ist hoch - besonders bei Jugendlichen. Auf dem Areal eines staatlichen Waisenhauses sind von der Stiftung Fond Aspern Kiew mehrere Projekte für Straßenkinder und Sozialwaisen untergebracht, die von der Caritas Wien unterstützt werden.

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Der Bezirk Darnitsa im Südosten Kiews
Eines davon ist das Kinderzentrum Aspern, in dem auch der fünfjährige Dobrinja wohnt. Noch vor kurzem lebte Dobrinja mit seinem Vater und seinen drei Geschwistern in einem Wald in der Nähe von Kiew. Durch die Arbeitslosigkeit seines Vaters war die ganze Familie obdachlos geworden. Ein Wanderer fand die völlig verwahrlosten Kinder beim Schwammerlsuchen und brachte sie in ein Krankenhaus - danach kam Dobrinja mit seinen Geschwistern ins Kinderzentrum.

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Nach dem täglichen Überlebenskampf im Wald kann Dobrinja jetzt einfach Kind sein
„Könnten wir nicht hier sein, wären wir auf der Straße“
Im selben Gebäude ist auch eine Wohngemeinschaft für Jugendliche untergebracht. Seit zwei Jahren leben dort die Schwestern Katja und Olga. Ihr Vater ist tot, die Mutter alkoholsüchtig. Wo sie wären, wenn es Aspern nicht gäbe? „Auf der Straße“, antworten die Schwestern wie aus einem Mund. Katja ist 19 und studiert Psychologie, die 20-jährige Olga macht eine Kochlehre. Es gehe ihnen gut, sagen sie, nur ihren kleinen Bruder würden sie gerne wiedersehen. Der 14-Jährige wurde adoptiert und lebt nun in Italien. Die Geschwister haben keinen Kontakt, aber: „Es ist besser für ihn. Er hat jetzt eine Familie, die ihn unterstützt. Das ist sehr wichtig.“

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Katja interessiert sich für Kriminalistik, Olgas Traum ist eine Reise in die USA
In den letzten Monaten wurde das Zentrum immer mehr zur Anlaufstelle für Menschen, die aus den umkämpften Gegenden um Donezk und Lugansk geflüchtet sind. Neben Kleidung und Lebensmitteln erhalten die Binnenflüchtlinge auch medizinische und psychologische Betreuung.
Viele Spenden kommen aus der Nachbarschaft
Obwohl viele Menschen in Darnitsa sehr arm und auf Unterstützung angewiesen sind, werden aus der Nachbarschaft immer wieder Spenden im Fond Aspern Kiew abgegeben. Lebensmittelpreise und Wohnkosten sind ähnlich wie in Wien, der Durchschnittslohn liegt aber lediglich bei etwa 200 Euro pro Monat.
Oft werden in der Plattenbausiedlung in einem ganzen Gebäude Strom und Heizung abgestellt, weil viele Familien die Kommunalabgaben nicht bezahlen können. Der 47-jährige Mischa und seine Söhne werden seit elf Jahren von dem Fonds unterstützt, seitdem sie „allein sind“, wie er sagt. Warum die Mutter des 17-jährigen Maxim und des 13-jährigen Sascha nicht mehr bei ihnen ist, darüber spricht Mischa nicht, wie die Familienbetreuerin nach unserem Besuch erzählt.

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Maxim, Sascha und Mischa schlafen und wohnen in einem kleinen Zimmer
Die kleine Familie lebt in einem Zimmer, in dem gerade einmal ein Stockbett für die Söhne, ein Sofa für den Vater und ein kleiner Tisch Platz haben. In der Wohnung im Erdgeschoß eines Plattenbaus sind 19 Menschen auf 75 m2 untergebracht, auch die Großmutter lebt dort. Er sei nicht nur für die Lebensmittelpakete dankbar, erzählt Mischa, der das Familieneinkommen mit dem Verkauf von Plastiksackerln auf dem Markt von Darnitsa verdient, sondern vor allem auch für jahrelange Unterstützung bei der Erziehung seiner Söhne. Maxim und Sascha sollen ehrliche und gute Menschen sein, das ist dem Alleinerzieher wichtig.
Ein zweites Zuhause in der Plattenbausiedlung
Weiter im Osten der Ukraine ist die angespannte Lage noch mehr zu spüren. Charkiw, die zweitgrößten Stadt der Ukraine, ist nicht einmal 300 Kilometer von Donezk entfernt und das Ziel vieler Binnenflüchtlinge. Schon vor dem Ausbruch der Krise war die Armut in Charkiw groß. Zusammen mit einer lokalen Partnerorganisation errichtete die Caritas in der Plattenbausiedlung Saltovka ein Zentrum, in dem Kinder bis in den Abend kostenlos betreut werden und an Kursen wie Malen, Englisch, Turnen und Flugzeugmodellbau teilnehmen können. In den letzten Monaten kamen immer mehr Flüchtlingskinder aus den Gegenden um Donezk und Lugansk dazu.

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Letzte Woche konnten endlich neue Fenster eingesetzt werden - davor war es in dem Raum für den Malkurs kalt
Auch Kamila, Alina und Jula, die Töchter der 28-jährigen Aljona, gehen regelmäßig ins Kinderzentrum - sie besuchen dort den Tanzkurs. Ihr Vater, Aljonas Mann, wurde vor zwei Jahren plötzlich krank und starb. Er habe als Elektriker ein gutes Gehalt gehabt, erzählt Aljona. Die Lebensmittelpreise seien in der letzten Zeit stark gestiegen - ohne die Lebensmittelpakete, die sie vom Zentrum bekommt, wäre das Leben sehr schwierig.

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Aljona und ihre Töchter in ihrer Wohnung in Charkiw-Saltovka
„Zivilgesellschaft hat Grenze erreicht“
Die Solidarität der Menschen mit den Binnenflüchtlingen sei enorm groß, sagte Andrij Waskowycz, Präsident der Caritas Ukraine, bei einer Pressekonferenz am Mittwoch in Charkiw. Menschen auf der Flucht würden von Privatpersonen aufgenommen und verpflegt. Doch die Grenze dessen, was die Zivilgesellschaft leisten kann, sei erreicht, so Waskowycz. Die Ukraine brauche dringend Hilfe aus dem Ausland.
Mehr als ein Drittel der Bevölkerung der Ukraine lebt in extremer Armut. Der Konflikt im Osten erschüttere ein Land, das bereits seit Jahren am sozialen Abgrund steht, so Caritas-Österreich-Präsident Michael Landau. Für viele der 45 Millionen Einwohner der Ukraine sei der Alltag zum Überlebenskampf geworden. Vor allem für Familien mit Kindern werde die wirtschaftliche Situation immer schwieriger.
In vielen Fällen zwinge die soziale Not die Eltern, die Kinder langfristig der Obhut der Großeltern oder Nachbarn zu überlassen und Arbeit im Ausland zu suchen, so Landau. Laut UNICEF müssen jedes Jahr knapp 20.000 Kinder in der Ukraine in die Betreuung durch staatliche und sonstige Einrichtungen übernommen werden. Insgesamt schätzt UNICEF die Zahl der Kinder in der Ukraine, die ohne ihre Eltern aufwachsen, auf über 100.000.
Romana Beer, ORF.at, aus Kiew
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