Märkte reagierten „schockiert“
Völlig unerwartet hat die Schweizerische Nationalbank (SNB) am Donnerstag den Euro-Mindestkurs von 1,20 aufgehoben. Europas Aktienmärkte reagierten teils mit Panik: Alleine der Leitindex SMI der Zürcher Aktienbörse brach um bis zu 15 Prozent ein. Der Euro fiel auf den tiefsten Stand seit 2003.
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Die Zürcher Börse verzeichnete am Donnerstag den größten Verlust ihrer Geschichte. Mit Ausnahme des Telekomkonzerns Swisscom rutschten alle 20 im SMI verzeichneten Unternehmen stark ab. Der Uhrenhersteller Swatch verlor 16 Prozent, das Chemie- und Pharmaunternehmen Lonza 18 Prozent. Die Verluste der Banken UBS, CS und Julius Bär lagen im Bereich von elf bis zwölf Prozent. Der SMI lag am Ende des Handelstages mit einem Minus von 8,67 Prozent bei 8.400,61 Punkten. Das Tageshoch lag bei 9.277, das Tagestief bei 7.932 Punkten.
Der Aktienumsatz war schon zu Mittag fast viermal so hoch wie an einem gesamten Durchschnittstag. Swatch-Chef Nick Hayek befürchtet laut eigenen Aussagen einen „Tsunami“ für die ganze Schweiz. Er stehe unter „Schock“, sagte der Chefökonom der Schweizer Großbank UBS, Daniel Kalt: „Das haben wir so nicht erwartet. Das ist starke Medizin.“
Euro auf neuem Tiefstwert
Auch andere Aktienindizes wie der Euro Stoxx 50, der DAX in Frankfurt und der FT-SE-100 in London rutschten kurzfristig in die Verlustzone. Die Indizes erholten sich aber wieder und schlossen schließlich im Plus. „Die Märkte waren nach dieser Maßnahme der SNB zunächst geschockt. Damit hat man wohl nicht gerechnet“, so ein Marktanalyst. „Die Auflösung der Wechselkursbindung wirkt wie die Sprengung eines Staudamms“, sagte ein weiterer Marktteilnehmer in der Schweiz. Die künstlich angestaute Franken-Schwäche entlade sich nun schlagartig in einer Aufwertung der Schweizer Währung.
Der Franken gewann zum Euro deutlich an Wert. Da die SNB den vor mehr als drei Jahren eingeführten Euro-Mindestkurs nicht mehr durch Stützungskäufe verteidigen will, brach der Kurs des Euro um bis zu 28 Prozent ein - so stark wie noch nie. Dabei markierte er mit 0,8639 Franken zeitweise den tiefsten Stand seit 2003. Auch zum Dollar geriet der Euro ins Rutschen. Sein Kurs fiel auf ein Neunjahrestief von 1,1665 Dollar.
Strafzins für Guthaben erhöht
„Der Mindestkurs wurde in einer Zeit der massiven Überbewertung des Franken und größter Verunsicherung an den Finanzmärkten eingeführt“, erklärte die SNB ihren Schritt. Der Franken bleibe zwar hoch bewertet, aber die Überbewertung habe sich seit Einführung des Mindestkurses insgesamt reduziert. Zugleich erhöhte die SNB den Strafzins für Guthaben auf Girokonten, die einen bestimmten Freibetrag übersteigen, auf 0,75 Prozent. Die Nationalbank in Zürich hatte 2011 angesichts eines anhaltenden Höhenflugs des Franken den Mindestwechselkurs von 1,20 Franken für einen Euro festgelegt.
Offenbar rechne die SNB fest mit baldigen umfassenden Wertpapierkäufen der EZB, dem sogenannten Quantitative Easing (QE), sagte Jonathan Webb, Devisenanlagestratege vom Brokerhaus Jefferies. „Das würde es den Schweizern erschweren, den Euro-Kurs zu verteidigen.“ Auch die angekündigte Änderung der US-Finanzpolitik wird von Marktbeobachtern als Auslöser für die Kehrtwende gesehen. Sie werfen der SNB allerdings vor, dass sie sich noch vor wenigen Tagen zum Mindestkurs bekannt hatte.
IWF „völlig überrascht“
Der Internationale Währungsfonds (IWF) zeigte sich verwundert über die sofortige Aufhebung des Euro-Mindestkurses durch die SNB. „Dieser Schritt kam etwas überraschend“, sagte IWF-Chefin Christine Lagarde dem Sender CNBC. „Jordan (SNB-Chef Thomas, Anm.) hat mich davor nicht kontaktiert. Ich finde das ein wenig verwunderlich“, so die Französin. Sie hoffe, Jordan habe seinen Kollegen von den anderen Zentralbanken vorher Bescheid gesagt, fügte Lagarde hinzu. Den Schritt der Schweizer Notenbank kommentierte sie nicht weiter.
Schweizer Regierung reagiert verhalten
Die Schweizer Regierung reagierte zuerst zurückhaltend auf die Entscheidung der Notenbank. Die Regierung habe den Entscheid zur Kenntnis genommen, sagte Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf am Donnerstag in Bern. Widmer-Schlumpf wurde gemeinsam mit Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann und Umweltministerin Doris Leuthard im Ausschuss Wirtschaftspolitik der Schweizer Regierung von Jordan über die Entscheidung informiert. Schneider-Ammann hatte laut eigenen Aussagen erst kurz vor der Öffentlichkeit von der Entscheidung der SNB erfahren, betonte aber die Unabhängigkeit der SNB bei ihren Entscheidungen.
In einer Mitteilung schrieb der Ausschuss, der Mindestkurs der SNB sei ein „wichtiges und gutes, aber stets befristetes Instrument“ gewesen. Er habe Vertrauen in die Nationalbank, dass sie die Preisstabilität gewährleiste und dabei die konjunkturelle Entwicklung berücksichtige. Es sei offensichtlich, dass der Entscheid der SNB die Schweizer Wirtschaft und insbesondere die Exportindustrie und den Tourismus vor große Herausforderungen stelle. Umso wichtiger sei die Weiterführung der Politik zur Stärkung der Rahmenbedingungen für die Schweizer Wirtschaft und die Sicherung der Arbeitsplätze in der Schweiz. Die Notenbank hatte den Mindestkurs im Jahr 2011 festgelegt. Die Schweizer Regierung hatte den Schritt damals begrüßt.
Entscheidung „völlig unverständlich“
Raiffeisen-Chefanalyst Peter Brezinschek bezeichnete die Entscheidung der SNB als „völlig unverständlich“. Die SNB habe ihre Glaubwürdigkeit damit stark ramponiert. Für die Schweizer Exportindustrie sei die Entscheidung ein harter Schlag, für den heimischen Tourismus hingegen ein Segen. Brezinschek rechnet damit, dass sich ein neues Kursgleichgewicht in zwei, drei Wochen bei 1,10 bis 1,13 Franken pro Euro einpendeln wird.
Es habe sich um einen „völlig überraschenden Schritt“ gehandelt, kommentierte Devisenexperte Lutz Karpowitz von der Commerzbank. Mit der Freigabe des Wechselkurses laufe die SNB Gefahr, dass der Schweizer Franken massiv aufwerte, so Karpowitz. Die gleichzeitige Zinssenkung sei „kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein“.
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