„Wir machen keinen Rückzieher“
Nur die Provokation auf dem Titelblatt hat sich die Redaktion von „Charlie Hebdo“ nicht verkneifen können: Das Cover der ersten Ausgabe des Satiremagazins nach dem tödlichen Terroranschlag von letzter Woche zeigt erneut den Propheten Mohammed - allerdings auf eine demonstrativ versöhnliche Art. Der Titel „Alles ist vergeben“ sei ernst gemeint, betonen die verbliebenen Redakteure des Magazins.
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Auf der Titelseite hält ein weinender Mohammed ein Schild mit dem inzwischen ikonenhaften Solidaritätsspruch „Je suis Charlie“ (Ich bin Charlie). „Unser Mohammed ist in erster Linie ein Mann, der weint“, sagte der Zeichner Luz bei einer Pressekonferenz in Paris. Der sichtlich aufgewühlte Zeichner rang dabei immer wieder nach Worten und machte bei seinen Ausführungen lange Pausen. Er habe „keinerlei Sorge, was mein Titelblatt angeht“, betonte er: „Denn ich glaube, dass die Menschen intelligent sind - immer mehr, als man glaubt.“
„Weiterlachen“ als Aufgabe
„Ich habe gezeichnet und gesagt: ‚Ich bin Charlie‘“, schilderte Luz, der mit vollem Namen Renald Luzier heißt, die Entstehung des Titelblattes. „Das war eine Idee, die ich im Kopf hatte, aber es war nicht genug, das war noch keine Titelseite. Und dann gab es noch diese Idee, Mohammed zu zeichnen. Ich habe ihn angeschaut, er war am Weinen, und dann habe ich darüber geschrieben: ‚Alles ist vergeben‘ - und dann habe ich geweint. Und das ist die Titelseite.“

Reuters/Philippe Wojazer
Die Präsentation der „Ausgabe der Überlebenden“
„Charlie Hebdo“-Chefredakteur Gerard Biard sagte, der Mohammed auf dem Titelbild sei „viel sympathischer als der, den die Attentäter vor sich hertragen.“ Ziel sei es gewesen, ein Titelbild zu kreieren, das die Leute trotz der Geschehnisse zum Lachen bringe. Überhaupt habe man sich „gefragt, wie wir uns selbst treu bleiben können, wie wir weiterlachen können“. Die Ausgabe wurde nur von den überlebenden Redaktionsmitgliedern gestaltet, die linksliberale Zeitung „Liberation“ teilte dafür mit den Kollegen ihre Redaktionsräumlichkeiten.
Höchste Auflagenzahl in Frankreichs Geschichte
Mit der „Ausgabe der Überlebenden“ zeige „Charlie Hebdo“ seine „zarte Seite“, urteilte auch „Liberation“-Publikationsdirektor Laurent Joffrin. Die Ausgabe enthält als Würdigung auch alte Beiträge der getöteten Redaktionsmitglieder, etwa einen Cartoon über „Dschihad-Touristen“. In den neuen Beiträgen wird zum Teil direkt auf die Anschläge Bezug genommen. Die Schlussseite etwa, ebenfalls von Luz gezeichnet, zeigt die im Paradies ankommenden Attentäter mit der Frage: „Wo sind die 70 Jungfrauen?“ Die Antwort: „Beim Team von Charlie, du Trottel.“
Die neue Ausgabe der 16-seitigen Satirezeitung kommt am Mittwoch mit einer Rekordauflage von drei Millionen in den Handel - sonst liegt sie bei rund 60.000 Exemplaren, davon 30.000 im Verkauf. Historikern zufolge wurden in Frankreich noch nie so viele Exemplare einer Zeitung gedruckt. Übersetzungen in bis zu 16 Sprachen sind geplant, diese Ausgaben werden jedoch erst gegen Ende der Woche erscheinen, teils gedruckt, teils als Onlineausgaben.
Kauf als Solidaritätsgeste
Der Kauf der aktuellen „Charlie Hebdo“-Ausgabe hat für viele in Frankreich nichts mit deren Inhalt zu tun: Es gab massenweise Vorbestellungen von staatlichen und kulturellen Institutionen ebenso wie von Privatfirmen, die das Heft verschenken wollen. In Österreich bringt der „Standard“ in seiner Mittwoch-Ausgabe Auszüge aus dem Heft. Entgegen ursprünglichen Aussagen überlegt der heimische Zeitschriftenhandel außerdem, das Heft in den Verkauf zu bringen. Dazu, wann die Ausgabe hierzulande erhältlich sein könnte, gab es vorerst aber keine Angaben.
Auch in der Türkei soll die neue Ausgabe zumindest in Teilen erscheinen. Die Ausgabe werde am Mittwoch in türkischer Sprache der renommierten Tageszeitung „Cumhuriyet“ beigelegt, sagte Biard der Nachrichtenagentur AFP. Die türkische Ausgabe ist für den „Charlie Hebdo“-Chefredakteur „die wichtigste“ überhaupt. Ein Mitarbeiter von „Cumhuriyet“ sagte, es werde nur ein Teil der Ausgabe veröffentlicht. Nach langer Diskussion habe sich die Leitung der Zeitung entschieden, nicht die ganze Ausgabe, sondern nur vier Seiten der Zeitschrift auf Türkisch zu drucken.
Die eine Mohammed-Karikatur auf dem Titelblatt war aus Sicht der Satiriker jedenfalls obligatorisch: „Es wäre verwunderlich gewesen, wenn es keine gegeben hätte“, sagte „Charlie Hebdo“-Anwalt Richard Malka. „In den vergangenen 22 Jahren gab es bei ‚Charlie Hebdo‘ keine Ausgabe ohne Karikaturen vom Papst, von Jesus, von Priestern, Rabbinern, Imamen oder von Mohammed.“ Die Redaktion mache sich auch über Politiker und andere Religionen lustig. „Wir machen keinen Rückzieher. Ansonsten wäre alles sinnlos“, betonte der Jurist.
Auch Kritik von französischen Muslimen
Maßgebliche ägyptische Islamgelehrte werteten die Darstellung als „rassistischen Akt“ - mehr dazu in religion.ORF.at. Die islamische Al-Ashar-Universität in Kairo erklärte, die Veröffentlichung der Zeichnung werde „den Hass schüren“. In Pakistan pries ein konservativer Prediger die Taten der Terroristen und erklärte, Blasphemie müsse immer mit dem Tod bestraft werden. Die Terrorgruppe Al-Kaida im Islamischen Maghreb (AQMI) drohte im Internet wegen des neuen Magazincovers mit weiteren Angriffen auf Frankreich.
Islamische Geistliche aus Frankreich forderten ihre Gemeinden auf, Ruhe zu bewahren und die Meinungsfreiheit zu achten. Manche äußerten sich dennoch deutlich kritisch über den Cartoon. „Jeder verantwortungsbewusste Muslim kann das nur schwer hinnehmen. Aber wir sollten das nicht verbieten“, sagte etwa Abdelbaki Attaf, der für eine Moschee in Gennevilliers bei Paris verantwortlich ist. Das Gebetshaus wurde auch von einem der „Charlie Hebdo“-Attentäter, Cherif Kouachi, gelegentlich besucht.
Die Ausgabe schien sich Mittwochfrüh noch besser zu verkaufen als gedacht: An etlichen Pariser Zeitungsständen war das Heft innerhalb kürzester Zeit vergriffen. Viele Stammkunden hätten sich schon im Vorfeld Exemplare reserviert, berichteten Verkäufer. Das offizielle Frankreich kommentierte die neue Ausgabe von „Charlie Hebdo“ vorerst nicht.
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