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„Wettbewerbsfähig, digital, engagiert“

Wenn der lettische Außenminister Edgars Rinkevics nach dem Jahreswechsel in seiner Funktion als inoffizieller EU-Ministerchef nach Brüssel reist, muss er mehr als 1.450 Kilometer Luftlinie überwinden. In die andere Richtung, nach Moskau, sind es nicht einmal 850 Kilometer. Diese - nicht nur geografische - Nähe zu Russland wird das nächste halbe Jahr des lettischen EU-Vorsitzes entscheidend mitprägen.

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Lettland war über Jahrhunderte hinweg von Russland dominiert und die meiste Zeit davon de facto ferngesteuert. Die lettische Sowjetrepublik zerbröselte erst mit der Sowjetunion zu Beginn der 90er Jahre. Mit umso strikterer Orientierung in Richtung Westen arbeitete sich Lettland seither in die NATO und EU, den Schengen-Verbund und die Euro-Zone vor. Die ohnehin von Misstrauen geprägte Einschätzung Moskaus hat sich aus der Sicht vieler Letten mit der Ukraine-Krise bestätigt. Das birgt Sprengstoff für das nächste halbe Jahr.

Lettland sieht russische Provokationen

Aus den historischen Erfahrungen gespeist, ist Lettland der Annexion der Krim und dem prorussischen Separatismus in der Ostukraine noch energischer entgegengetreten als andere EU-Länder. Moskau tat das Seinige, um Befürchtungen über Großmachtstreben zu bestätigen. Zuletzt ließ Russland seine Luftstreitkräfte systematisch entlang der Grenze zum Baltikum Manöver fliegen. Laut der NATO verletzten die russischen Militärjets dabei auch oft genug den EU-Luftraum. Moskaus Kriegsmarine kommt der EU in letzter Zeit ebenso auffällig oft nahe.

Auch erklärte ein Berater von Kreml-Chef Wladimir Putin im November rundheraus, dass Estland und Lettland wie die Ukraine ihre russische Minderheit unterdrückten und damit Gefahr liefen, „dass sie von der Landkarte verschwinden“. Als weitere Provokation wurde empfunden, dass Russland im Dezember mit der Auszahlung von Veteranenrenten in den baltischen Staaten begann. Die sind zwar für die Empfänger mit monatlich 6,50 Euro bis 15 Euro wirtschaftlich irrelevant - für Russland aber eine Gelegenheit, 12.000 Ex-Soldaten zu umgarnen.

Auf Moskaus Öl und Gas angewiesen

Zugleich ist Lettland auf Russland angewiesen: Der Bedarf an Erdöl, Erdgas und Kohle wird fast ausschließlich vom großen Nachbarn gedeckt. Zudem ist Russland ein unverzichtbarer Exportmarkt für die Letten. Während die lettische Außenpolitik die derzeitigen wirtschaftlichen Probleme Russlands als Beweis der Wirksamkeit der EU-Sanktionen unterstreicht, warnt die lettische Notenbank zugleich vor den Folgen des schwachen Rubels, die die ohnehin schon arg angeschlagene lettische Wirtschaft noch mehr belastet.

Politisch will Lettland trotzdem nicht nachgeben. Demonstrativ will es etwa Europas Östliche Partnerschaft (EEAS) zu ehemaligen Sowjetrepubliken, darunter die Ukraine, in den EU-Vorsitz einbauen. Es war wohl kein Zufall, dass der sonst nicht um klare Worte verlegene EU-Parlamentspräsident Martin Schulz zuletzt bei einer Vorbereitung der lettischen EU-Präsidentschaft dazu wie auf rohen Eiern formulierte. Natürlich hätten die Ex-Sowjet-Länder „das Recht, ihre eigenen Werte festzulegen, ebenso wie ihren Weg zu einer europäischen Gemeinsamkeit“, so Schulz.

„Beschäftigungstherapie“ für Riga

Das Motto des lettischen EU-Vorsitzes lautet „wettbewerbsfähiges, digitales und engagiertes Europa“. Und Lettlands Regierung machte klar, dass man unter „Engagement“ gerade auch eine bestimmte außenpolitische Linie gegenüber etwaigen Souveränitätsverletzungen auch bei Nicht-EU-Ländern verstanden wissen will. Schulz wiederum gab zuletzt bei seinem Besuch in der lettischen Hauptstadt Riga zu verstehen, dass es den EU-Institutionen lieber wäre, Lettland würde sich auf die ersten zwei Drittel des Mottos konzentrieren.

Angesichts der vielen bevorstehenden Aufgaben wird laut Schulz’ Darstellung ohnehin für lettisch-russische Spannungen gar kein Raum mehr bleiben: Es gebe „große Einigkeit“, dass die wichtigsten Ziele des lettischen EU-Vorsitzes der 300-Milliarden-Investitionsplan der Kommission, die Förderung des europäischen digitalen Marktes und die Liberalisierung des innereuropäischen Energiemarktes seien. Ob Schulz’ „Beschäftigungstherapie“ aufgehen wird, ist allerdings fraglich.

Tusk als Sekundant

Neben dem lettischen EU-Vorsitzteam ist nun mit Donald Tusk auch ein Ratspräsident am Ruder, der aus seiner Heimat Polen ein gebranntes Kind der Sowjetvergangenheit ist. Und auch Tusk machte klar, dass er Europa zu „selbstbewusstem einigem Auftreten“ gegenüber Moskau motivieren will, das über „Reaktion und Verteidigung“ hinausgehen soll. Als Gegengewicht in der neuen EU-Spitze könnte man allenfalls die italienische Außenbeauftragte Francesca Mogherini betrachten, der man zumindest keine antirussische Haltung unterstellen kann.

Und schließlich hat der lettische EU-Vorsitz noch ein ganz persönliches Maß an Angespanntheit. Lettlands 41-jähriger Außenminister Rinkevics muss sich, wenn er sich nach Moskau aufmachen sollte, wohl auch persönlich beherrschen: In Russland übernahm zuletzt Putins Freund Dimitri Kisseljow den riesigen Staatssender Russia Today, der toten Homosexuellen die Herzen herausreißen will, um sie zu verbrennen - in Lettland setzt sich der bekennende Homosexuelle Rinkevics dafür ein, raschestmöglich die Verpartnerung gleichgeschlechtlicher Paare ins Gesetz zu schreiben.

Lukas Zimmer, ORF.at

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