Zeugin bringt Fall wieder aufs Tapet
Eines der größten Rätsel der deutschen Kriminalgeschichte soll jetzt gelöst werden: Mehr als drei Jahrzehnte nach einem blutigen Bombenanschlag auf dem Münchner Oktoberfest mit 13 Toten und mehr als 200 Verletzten hat die deutsche Bundesanwaltschaft die Ermittlungen wiederaufgenommen.
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Nach den bisherigen Ermittlungsergebnissen habe Gundolf Köhler, ein 21-jähriger Geologiestudent und früherer Anhänger der rechtsextremen Wehrsportgruppe (WSG) Hoffmann, den Sprengsatz im Hause seiner Eltern in Donaueschingen gebaut und ihn dann nach München zum Oktoberfest transportiert.
Politiker vermuteten RAF-Anschlag
Die Bombe explodierte um 22.19 Uhr in einem Papierkorb beim Hauptausgang an der Schwanthaler Straße. Hunderte Menschen waren in unmittelbarer Umgebung. Der Attentäter und zwölf weitere Menschen starben - im Umkreis von 30 Metern wurden 211 Menschen zum Teil schwer verletzt.
Für die mitten im Wahlkampf stehende deutsche Politik war schon Minuten später klar, wer Drahtzieher sein musste: Im Bann der Attentate der Rote Armee Fraktion (RAF) wurden Linksextreme als Schuldige ausgemacht - allen voran versuchte der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß (CSU) wenige Tage vor der Bundestagswahl, daraus politisches Kapital zu schlagen.

AP/Dieter Endlicher
CSU-Ministerpräsident Franz Josef Strauß besuchte den Tatort umgehend
Wehrsportgruppe im Visier
Doch schon bald stand fest, dass er irrte: Die Bombe wurde Köhler zugeordnet, einem Anhänger der einige Monate zuvor verbotenen WSG Hoffmann - einer rechtsextremen, paramilitärischen Organisation. Zunächst liefen umfassende Aktionen gegen die Gruppe an, die zur vorübergehenden Festnahme von sechs Personen führten. Doch sie wurden kurz darauf wieder entlassen.
Bei Hausdurchsuchungen fanden die Ermittler unter anderem Karabiner, ein Flakgeschütz, Granaten, Panzerfäuste und neonazistische Schriften. Wenige Stunden nach dem Anschlag wurde ein Konvoi der WSG an der deutsch-österreichischen Grenze gestoppt. Die Beteiligten wollten offenbar drei Klein-Lkws in den Libanon verschieben und dort verkaufen. Die CSU hatte die WSG lange als „harmlose Spinner“ abgetan.
„Einzeltäter“ und „Unifrust“
Im Zuge der Ermittlungen wurden mehr als 850 Spuren verfolgt und 1.700 Zeugen vernommen. Mehr als 100 Sachverständigengutachten wurden erstellt. Doch es blieb ein Wirrwarr aus Details, Seitensträngen, möglichen Verbindungen. Am 23. November 1982 wurde das Ermittlungsverfahren schließlich eingestellt. Köhler sei ein Einzeltäter gewesen, hieß es. Auslöser für die Tat sollen Frust über eine verpatzte Prüfung an der Uni und Liebeskummer gewesen sein.
Zeugin sah Flugblatt
Treibende Kraft hinter der jetzigen Wiederaufnahme ist der Opferanwalt Werner Dietrich. Seit 1982 vertritt er Familien von Opfern des Attentats. Schon 1983, 1984 und 2008 hatte er Anträge auf neue Untersuchungen gestellt und heuer am Jahrestag des Anschlags erneut - diesmal mit Erfolg.
Denn Dietrich benannte fünf neue Zeugen, darunter nach einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“) auch eine Frau, die am Tag nach dem Anschlag Flugblätter mit einem Nachruf auf den Attentäter Köhler gefunden haben soll - noch bevor dessen Name öffentlich bekannt war. Sie habe neben den Flugblättern zwei Pistolen gesehen, sei auch schon damals zur Polizei gegangen, aber abgewimmelt worden, so Dietrich.
Ominöser Zeuge
Immer wieder tauchten in den vergangenen Jahren Zeugen auf, die Köhler Minuten vor dem Attentat mit andern Männern sprechen gesehen hätten. Einer davon war Frank Lauterjung - seine Aussagen wurden zwar aufgenommen, später aber als unwichtig eingestuft. Sie gingen unter. 1982 starb Lauterjung 38-jährig an Herzversagen.
Erst 2010 berichteten Medien, das Lauterjung selbst bekennender Rechtsextremist war. Allerdings wurde er vom „Bund Heimattreuer Jugend“ ausgeschlossen, weil man ihn als Spitzel verdächtigte. Auch das heizte die Gerüchte an: War er tatsächlich V-Mann und vielleicht gar nicht zufällig am Anschlagsort?
Auch von einem zweiten Zeugen aus dem rechtsradikalen Milieu war die Rede, wiederum möglicherweise ein V-Mann. Vermutet wurde, dass er den Sprengstoff für das Attentat besorgt haben könnte. Er soll im Gefängnis Selbstmord begangen haben, just bevor er befragt werden sollte. Und sogar von einer zweiten Bombe wollten manche wissen. Die völlige Ungewissheit, was tatsächlich damals vorging, gab freilich auch Verschwörungstheorien Aufwind.
Beweismittel vernichtet
Für Empörung sorgte vor ein paar Jahren die Nachricht, dass amtlich verwahrte Beweismittel Ende der 1990er Jahre vernichtet wurden. Dabei handelte es sich unter anderem um gut 40 Zigarettenstummel unterschiedlicher Marken aus Köhlers Auto - ein Indiz dafür, dass er mit anderen Leuten Kontakt hatte.
Reporter Ulrich Chaussy vom Bayerischen Rundfunk setzte sich jahrzehntelang für eine Wiederaufnahme der Ermittlungen ein. Chaussy enthüllte in seinem mit Originalaufnahmen angereicherten Kinofilm „Der blinde Fleck“ Anfang des Jahres Ungereimtheiten, setzte Puzzleteile zusammen und warf Fragen auf - auch in einem Artikel für die „Zeit“ 2010.
Hand sorgte für Spekulationen
Für viele Spekulationen sorgte ein Stück einer abgerissenen Hand, deren Fingerabdruck sich auf Gegenständen in Köhlers Wohnung fand. Laut Bundesanwaltschaft war die Hand aufgrund der Fingerspuren Köhler zuzuordnen. Opfervertreter äußerten daran immer wieder Zweifel. Ein DNA-Vergleich ist nicht mehr möglich - auch dieses Beweisstück wurde entsorgt.
Immerhin: Im Mai räumte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann ein, dass es in seinem Amtsbereich noch ungeprüfte Akten zum Attentat gebe. Deutsche Medien sind sich sicher, dass es ohne die Enthüllungen rund um die rechtsextreme Terrorgruppe NSU und den Prozess gegen Beate Zschäpe niemals ein Wiederaufrollen des Falls Oktoberfestattentat gegeben hätte. Ob sich das Rätsel lösen lasse, bleibe allerdings fraglich. Alleine den Angehörigen sei es aber geschuldet, die Spuren noch einmal aufzunehmen.
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