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Wohlfühltermin mit ungeahnten Folgen

Das Bild gilt vor allem in Österreich als Symbol für das Ende des Kalten Krieges wie kaum ein anderes: Am 27. Juni 1989, schnitten Außenminister Alois Mock (ÖVP) und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn gemeinsam den Eisernen Vorhang durch. Es war ein reiner Showtermin. Zu dem Zeitpunkt gab es zwischen Österreich und Ungarn schon rund zwei Monate lang keinen Stacheldraht mehr.

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Dass für den Fototermin ein paar Meter Stacheldraht eigens wieder errichtet werden mussten und die Kameraleute und Fotografen genau auf den Bildausschnitt achten mussten, um die de facto schon offene Grenze nicht ins Bild zu bekommen, stört die Legendenbildung bis heute nicht. Auch belegen die einsilbigen Meldungen vom Juni ’89, dass der Fototermin nur als recht belanglose politische Wohlfühlaktion zum Abschluss von Horns damaligem Österreich-Besuch aufgefasst wurde. Es war eine der vielen Fehleinschätzungen im dramatischen Wendejahr.

Wenn DDR-Urlauber am Balaton fernschauen

Am Abend des 27. Juni hatten alle Beteiligten die erwünschten Bilder der gut gelaunten Außenminister mit Eisenschneidern (einmal mit, einmal ohne Arbeitshandschuhe) bekommen, und die Sache schien erledigt. Doch das Bild blieb haften. Davon wurde nicht zuletzt die österreichische Regierung auf dem falschen Fuß erwischt: Erst Wochen später sah sich das Außenministerium - mit bis heute zwischen den Zeilen herauszulesender Überraschung - genötigt, den „gemeinsamen symbolischen Akt“ erstmals zu kommentieren.

Rund 200 DDR-Flüchtlinge kommen im August 1989 durch den geöffneten "Eisernen Vorhang" nach Österreich

AP/votava

Das „Paneuropäische Picknick“ entwickelte sich zur geduldeten Massenflucht.

Dazwischen hatten auch viele DDR-Bürger die Bilder im ungarischen TV gesehen. Sie machten damals wie all die Jahre zuvor Sommerurlaub am Balaton als kommunistischem Mittelmeer-Surrogat - und beschlossen nach der Ausstrahlung der symbolkräftigen Bilder, nicht mehr heimzufahren. Dann kam das „Paneuropäische Picknick“, eine Friedenskundgebung an der Grenze am 19. August, die in eine Massenflucht Hunderter DDR-Bürger nach Österreich und weiter nach Deutschland ausartete.

„Alle, die sagen, sie hätten es gewusst, irren sich“

Die Massenflucht der DDR-Bürger über die österreichisch-ungarische Grenze wurde zum nächsten Signal. Die Ereignisse begannen sich zu überschlagen: Immer mehr DDR-Bürger kamen nach Ungarn, das Land musste schließlich nachgeben und ließ sie alle im Herbst ausreisen. Dann musste die DDR auch jene 7.000 Bürger ziehen lassen, die sich in der Prager Botschaft der BRD verschanzt hatten. Zwei Monate später öffnete die DDR selbst die Grenzen, drei Monate später die Tschechoslowakei.

Am Ende des Jahres, mit der Entmachtung der alten Regimes etwa auch in Rumänien und Bulgarien, war der Ostblock schließlich endgültig zerfallen. Auch in der österreichischen Bundesregierung, die damals vor allem mit dem eigenen EU-Beitrittsansuchen beschäftigt war, habe das niemand vorhergesehen, meinte der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky in einem Interview mit der APA. „Und alle, die sagen, sie hätten es schon vorher gewusst, irren sich.“

Nur ja niemanden verärgern

Österreichs Rolle bei den damaligen Umwälzungen sieht Vranitzky pragmatisch. Diese hätten großteils damit zu tun gehabt, dass Österreich als einziges westliches Land neben Finnland intensive Wirtschaftsbeziehungen zum Ostblock unterhalten habe. Man sei es also gewöhnt gewesen, Kontakte nach allen Seiten offenzuhalten. „Wir haben das schon immer so gemacht, dass wir keinen verärgert haben“, so Vranitzky.

Das eigentliche „Wunder“

Auch der damalige Wirtschaftsminister Wolfgang Schüssel (ÖVP) wurde anlässlich des Jahrestages von der APA mit den Worten zitiert, niemand hätte noch im Sommer 1989 erkannt, wie „spielentscheidend“ Ungarn letztlich sein werde. Auch noch aus dem Jahresrückblick des Außenministeriums zwei Tage vor Weihnachten 1989 ging hervor, dass die 90er Jahre, so Mocks damalige Prognose, eine „neue Qualität“ in den Beziehungen zum Ostblock bringen würden. Tatsächlich war der Ostblock Geschichte, bevor die 90er wirklich begannen.

Franz Vranitzky bei einer Sondersitzung des Ministerrates 1989

picturedesk.com/Kurt Keinrath

Ministerrat im Herbst 1989: Verkehrsminister Rudolf Streicher (SPÖ), Wirtschaftsminister Wolfgang Schüssel (ÖVP), Landwirtschaftsminister Josef Riegler (ÖVP), Kanzler Franz Vranitzky (SPÖ), Innenminister Franz Löschnak (SPÖ), Gesundheitsminister Harald Ettl (SPÖ), Außenminister Alois Mock (ÖVP) (v. l. n. r.)

Außerdem würdigte Mock etwa die „Freilassung des Bürgerrechtlers Vaclav Havel“. Allein das illustriert die damalige Dynamik: Exakt eine Woche später war der „freigelassene Bürgerrechtler“ schon der Präsident der Tschechoslowakei. Das Staunen über die Vorgänge war aber nicht auf den Westen beschränkt. Gemeinsam mit Schüssel meinte bei der Podiumsdiskussion auch der damalige ungarische Regierungschef Miklos Nemeth: „Ein Wunder, dass das alles friedlich verlief.“

Lukas Zimmer, ORF.at

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