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Der „Kuckuck“ um 5.00 Uhr

ORF.at hat einen Tag im Haus Klosterneuburg der Caritas Wien verbracht. Heuer kann man dort noch sehen, was ein klassisches Altersheim ist. Solche Einrichtungen sind zwar immer noch weit verbreitet, werden aber nach und nach ersetzt. Auch in Klosterneuburg ziehen die Bewohner nächstes Jahr in ein neues Gebäude um, das modernen Ansprüchen genügt.

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Aber was ist ein Altersheim heute im Vergleich zu früher? In solche Einrichtungen gehen seit Jahren tendenziell jene Menschen, die bereits Pflegebedarf haben oder zumindest vom Alter so gezeichnet sind, dass sie beim besten Willen vieles nicht mehr selbst machen können. Das fällt auch im Haus Klosterneuburg auf. Es ist kein Krankenhaus, keine „Anstalt“, aber eben auch keine Wohngemeinschaft sportlicher Senioren. Es gibt ein Stockwerk für jene, die noch recht selbstständig sind und zwei Stockwerke für die anderen.

Frühstück in einem der letzteren beiden Stockwerke. Eine Handvoll gepflegter alter Menschen sitzt, lose verteilt, um einen großen Tisch. Niemand spricht, jeder starrt auf den Tisch vor sich. Am Buffet gibt es Brot und Semmeln zur Auswahl, Butter, Wurst, Käse, Marmelade und Honig, dazu Tee oder Kaffee. Im Radio läuft Musik, die nach Johannes Heesters klingt, Musik, die einen sogar nostalgisch machen kann, wenn man die Zeit damals nicht erlebt hat. Auch die Auswahl der Möbel und die Dekoration versuchen, 50er-Jahre-Gemütlichkeit trotz Neubauatmosphäre und hospitalartiger Gänge aufkommen zu lassen.

Bewohner des Pflegeheims

ORF.at/Zita Köver

Viele Bewohner nehmen die Möglichkeit wahr, liebgewonnene Möbel mitzunehmen

Ein Händedruck von Putin

Alle paar Minuten schaut eine Pflegerin herein und bringt jenen, die es nicht selbst schaffen, das Frühstück zum Tisch, begleitet von ein paar netten Worten und einer Berührung im Vorbeigehen. Ein erster Kommunikationsversuch des fremden Besuchers mit dem Aufnahmegerät scheitert. Der zweite gelingt: Auf der ganzen Welt sei er herumgereist, erzählt ein Herr. In Mexiko, in den USA, in Italien. „Dem Putin“ habe er persönlich die Hand geschüttelt in Moskau. Wirft man etwas ein, nickt er wissend. Wenige Minuten später wird er die ganze Geschichte noch einmal von vorne erzählen.

Der Vormittag steht im Zeichen der Aktivierung für die Fitten. Eine Gruppe höhlt Kürbisse aus und schneidet sie für die Suppe zusammen. Jeder ist so intensiv dabei, wie es eben geht. Wer gerade nicht kann, schaut zu. Zwei Männer basteln Halloween-Kürbisse. Eine dritte Gruppe versucht, einen Speiseplan für die kommende Woche zusammenzustellen, es gibt memoryähnliche Kärtchen mit Gemüsebildern drauf. In dieser Runde sitzen nur Frauen. Jede wird persönlich angesprochen von der Betreuerin. Sie werden animiert, Geschichten darüber zu erzählen, was früher auf dem Tisch stand, als sie noch Kinder waren. Das Gedächtnis wird trainiert, schöne Erinnerungen werden heraufbeschworen.

Jubel beim Bingo

Am Nachmittag folgt das Wochenhighlight: Bingospielen gemeinsam mit drei Mädchen aus dem nahen Gymnasium. Alle Sorgen und Einschränkungen scheinen vergessen, eine richtiggehend enthusiastische Stimmung macht sich breit. Es wird gewitzelt, man beäugt einander, bis schließlich jemand „Bingo“ ruft und jubelt. Rund 20 Menschen sind es, die am Kürbisvormittag und am Nachmittagsbingo teilgenommen haben. Wo ist der große Rest der Heimbewohner?

Pensionisten beim Bingo spielen

ORF.at/Zita Köver

Nur keine Zahl versäumen beim Bingospiel. Wer gewinnt, jubelt.

Einige sitzen da, als ob sie immer noch auf das Frühstück warten würden, schauen herum, reden nichts miteinander. Der nette Mann scheint allzeit bereit, seine Reiseerlebnisse zu erzählen. Andere gehen auf dem engen Gang im Slalom der Rollatoren hin und her. Eine Besucherin sucht ihre Mutter. Ein Pärchen, beide wohnen im Heim, plaudert ein paar Takte mit einem Dritten. Ein wenig Tageslicht dringt durch die Fenster am Ende der Gänge herein.

Abschied von der Bauernstube

Frau N. erzählt, dass sie sehr gerne hier lebt. Schon seit zwei Jahren habe sie immer wieder am Tagesprogramm teilgenommen, seit drei Monaten wohne sie ganz im Haus Klosterneuburg. Vorher lebte sie gemeinsam mit ihrer Tochter in einem großen Haus. Aber die Spannungen zwischen den beiden wurden immer größer. Trotzdem sei sie voll Stolz und Überzeugung ins Heim gegangen. Nur heimlich habe sie geweint, als sie die über Jahrzehnte gepflegte und herausgeputzte Bauernstube verlassen habe. Ihre liebsten Dekorationsgegenstände nahm sie mit, die sind in einem Holzkasten mit Glasfront im Zimmer ausgestellt.

Plüschtier und Bücher

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Die Trophäen eines Bewohners: Beim Bingospielen lassen sich Tierlein gewinnen

Wahre Freundschaft

Frau B., eine Freundin von Frau N., versteht sich hingegen gut mit ihrer Tochter. Die Tochter, erzählt sie voll Stolz, besuche sie regelmäßig und bringe ihr immer tolle Geschenke mit. Frau N. wirft ein, dafür bekomme sie viele Postkarten von Freundinnen. Frau B. gibt sich besorgt, ein Anflug süffisanten Grinsens ist aber nicht zu übersehen: „Wieso kommen die dich denn nie besuchen? Lad sie doch ein! Die können jederzeit kommen.“ Frau N. beugt sich flüsternd zum Besucher und schlägt zurück: „Die B. ist Langschläferin. Wenn ich in der Früh um fünf aufstehe, gehe ich als Erstes zu ihrer Zimmertür und rufe ‚Kuckuck‘ durchs Schlüsselloch.“ Jetzt lächelt auch Frau N.

Die Leidenschaft der beiden Frauen ist das Bingospielen. Sie konzentrieren sich sehr auf jede einzelne Zahl, die aufgerufen wird. Niemals vergessen sie, eine anzukreuzen. Gleich die erste Runde am Dienstag gewinnt Frau N. Immer wieder fragt sie nach, ob es denn nicht unglaublich viel Spaß mache, Bingo zu spielen. Das tut es - und zwar der ganzen Runde. Alle sind mit viel Begeisterung dabei, auch die drei Mädchen aus dem Gymnasium.

Pin-ups und eine Eisenbahn

Männer gibt es demografiebedingt weniger im Heim. Sie haben sich einen Klubraum gestaltet, wo sie gemeinsame Abende verbringen. An den Wänden hängen 60er-Jahre-Pin-ups. Das Ganze hat Stil und Charme - wie auch ein geräumtes Stockwerk, das ausschließlich dem Thema Modelleisenbahn gewidmet ist. Eine tolle Miniaturlandschaft ist dort im Entstehen. Mitten im Gang hängt ein richtiger Bahnschranken zum Kurbeln. Regelmäßig kommen die Männer hier zusammen.

Gang in einem Pflegeheim

ORF.at/Zita Köver

Ein ganzes Stockwerk ist dem Motto Eisenbahn gewidmet

Streit, Beschwerden, „irrationale Angst“

Einer von ihnen ist Herr W. Er vertritt die Bewohner gegenüber der Heimleitung. Sie kommen zu ihm, wenn sie sich etwas nicht zu sagen trauen, weil sie Angst haben, abgeschoben zu werden - „was natürlich eine irrationale Angst ist“, wie Herr W. sagt. Wenn Menschen zusammenkämen, dann seien gelegentliche Reibereien nicht zu verhindern, erklärt Herr W. Beschwerden gebe es selten, aber doch.

Was ihn und manch anderen Bewohner stört: Das Fleisch werde manchmal zu hart zubereitet für dritte oder vierte Zähne. Vierte Zähne? Herr W. lacht. Damit meine er, wenn jemand gar keine Zähne mehr habe und mit dem Zahnfleisch eher lutsche als kaue. Sonstige Probleme? Manchmal fühlt er sich bevormundet, etwa zuletzt, als man die Polizei nach ihm schickte, weil er nicht im Heim schlief. Das Ganze klärte sich als Missverständnis auf. Herr W. war ordentlich sauer, ist aber nicht nachtragend.

Mann streichelt Katze in einem Pflegeheim

ORF.at/Zita Köver

Ein Bewohner, der die Tiere im Haus liebt: Katzen, Hasen, einen Wellensittich

Ein heimeliges Heim

Herr W. betont, gerne im Haus Klosterneuburg zu wohnen, auch wenn er auf manches einen ironischen Seitenblick wirft. So betrachtet er im Vorbeigehen bunte Herbstbilder und Herbstbegriffe, die von den Senioren gestaltet wurden, und zischt kurz angebunden „Beschäftigungstherapie“. Die zahlreichen Ecken mit Nostalgiemöbeln und Spitzendeckchen, die das Heim für die betagte Zielgruppe heimelig machen sollen, gefallen ihm jedoch.

In Klosterneuburg ist man sichtlich bemüht um die Bewohner. Das eine oder andere Detail kann für Journalisten arrangiert werden - nicht aber eine riesige Modelleisenbahnlandschaft und Nostalgiemöbel. Dennoch wird der Besucher allerorten Gewahr, dass das hohe Alter für Menschen mit Pflegebedarf kein Kinderspiel ist. Und dass die persönliche Vorsorge im Krankheitsfall wenig hilft. Auch die Mitarbeiter im Haus Klosterneuburg sind in den neuesten Pflegekonzepten für demente und kranke Menschen ausgebildet. Aber flächendeckende Einzelbetreuung wird wohl nur durch gesamtgesellschaftliche Vorsorge möglich sein - die teuer ist und damit unpopulär. Ob es auf lange Sicht nicht als weit unpopulärer wahrgenommen wird, wenn Menschen mit Pflegebedarf jahrelang gelangweilt herumsitzen, bleibt abzuwarten.

Simon Hadler (Text), Zita Köver (Fotos), beide ORF.at

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