Massenflucht vor brutaler Diktatur
Mossul, die zweitgrößte Stadt des Irak, im Norden des Landes am Tigris gelegen, befindet sich seit Anfang Juni in der Hand der dschihadistischen Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Wie sich das Leben in der Stadt unter der Diktatur der Extremisten in diesen fünf Monaten verändert hat, schildern tagebuchähnliche Notizen von Bewohnern, veröffentlicht von der BBC.
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Die Dschihadisten hätten „schleunigst“ ein Regime in Einklang mit ihrer radikalen Version des Islam errichtet, mit brutalen Strafen, strengen Vorschriften für Frauen und einem Verbot für jeglichen Widerspruch. In der Provinz Ninive habe die Schule begonnen wie jedes Jahr, doch heuer sei alles anders, heißt es im ersten Eintrag einer Lehrerin namens Mays - die BBC hat die Namen nach eigenen Angaben zum Schutz der Betroffenen geändert.
Der IS habe „strenge Regeln für Schüler und Schulverwaltung erlassen“. Für das Schulwesen in der Provinz sei ein Ägypter zuständig, dessen Name auf den Unterrichtsunterlagen stehe, schildert Mays. Außerdem hätten die Dschihadisten „die Verwendung von Farben und Buntstiften in der Schule strikt verboten“.
Mädchen und Buben schon als Kinder getrennt
Wichtigstes Anliegen sei dem Ägypter, der sich nach einer Figur aus dem Koran Dhul-Karnai nenne, gewesen, Buben und Mädchen schon in der Volksschule voneinander zu trennen. Er habe außerdem Anweisung gegeben, dass Schülerinnen, „die schon etwas reifer aussehen“, weite Kleidung und einen Gesichtsschleier tragen müssten. „Männlichen Lehrern ist es nicht erlaubt, Mädchen zu unterrichten, und Lehrerinnen dürfen keine Buben unterrichten.“

Reuters
Ein IS-Kämpfer schwenkt in Mossul die schwarze Flagge der Dschihadisten
Der IS hat auch seine Vorstellung von Wissenschaft und Kunst bzw. dessen, was daran „unislamisch“ ist. Nach der Eroberung Mossuls zerstörten die Extremisten mehrere Denkmäler und das Grab Ibn al-Athirs, eines bedeutenden Historikers des Mittelalters. Erst seien Geografie und Geschichtestunden gestrichen worden, später Kunst. Stattdessen gebe es nun arabische Kalligrafie als Unterrichtsfach, statt Sport stehe „Dschihad-Unterricht“ auf dem Lehrplan, schrieb Mays am Freitag.
Christenverfolgung und Plünderungen
Es gebe in der Stadt nicht ein Haus, das zuvor einem Christen gehört habe und nicht „vom IS beschlagnahmt und geplündert wurde“, notierte ein Einwohner Mossuls unter dem Pseudonym Nizar. Besitztümer der Christen seien „gestohlen worden, bis zum letzten Besenstiel“. Vor dem Einmarsch der Dschihadisten gab es in der nordirakischen Stadt eine große und sehr alte Gemeinde assyrischer Christen, im Sommer flohen so gut wie alle ihrer Mitglieder.
Sie waren vor die Wahl gestellt worden, entweder zum Islam zu konvertieren, eine Religionssteuer zu bezahlen oder getötet zu werden. Überhaupt flohen zahlreiche Angehörige von Minderheiten, etwa auch Jesiden, nach der Machtübernahme durch die Extremisten aus der einst multiethnischen und multireligiösen Stadt.
IS-Kämpfer seien in die Häuser vertriebener Christen eingezogen und „benutzen alles in diesen Häusern, als ob es ihre wären“, so Nizar. „Wir schämen uns, unsere christlichen und jesidischen Freunde anzurufen, (...) als ob es ich oder jemand aus meiner Familie wäre, der diese abscheulichen Verbrechen gegen sie begeht“. Er könne nicht in „die bösen Gesichter“ der Dschihadisten schauen. Insgesamt dürfte rund eine halbe Million Menschen aus dem Raum Mossul vor dem IS geflohen sein.
Hoffen auf Zeit, „wenn das alles vorbei ist“
Wenn es zu Luftangriffen durch die US-Geführte Anti-IS-Allianz komme, würden die Kämpfer umgehend alle Lichter ausschalten, „und einige fahren mit ihren gestohlenen Autos in unbekannte Richtung davon“, um später zurückzukehren. Die Extremisten hätten Angst, dass die vertriebenen Christen ihre Häuser als Angriffsziele genannt hätten. Nizar schrieb in seinem Eintrag vom 5. November weiter, er habe gemeinsam mit einem Freund beschlossen, das Haus einer Christenfamilie zu sanieren, „wenn das alles vorbei ist und die Stadt von diesem Schmutz und dieser Gemeinheit gesäubert“.
Frühere Mitglieder der entmachteten Behörden müssten sich vor dem IS verstecken, berichtet ein Mann unter dem Namen Faisal. Einer seiner Freunde habe untertauchen müssen und könne kaum auf die Straße gehen, „weil IS-Kämpfer fast überall in der Stadt sind“. Manchmal würden sie auf der Suche nach Gegnern Kontrollposten errichten und Ausweiskontrollen durchführen. In der Stadt würden „friedliche Bürger terrorisiert“, heißt es in Faisals Eintrag vom 24. Oktober.
„Die schlimmsten Tage“
Die Dschihadisten würden „mit jedem Tag mehr“ und ihre Präsenz in der Stadt mit ihren fast drei Millionen Einwohnern kontinuierlich verstärken. Es gebe Exekutionen auf offener Straße. „Sie tragen schwarze Kampfanzüge, lassen ihre Haare und Bärte wachsen - einige sehen aus, als hätten sie seit Ewigkeiten keine Dusche gesehen!“
Lehrerin Mays berichtet in einem weiteren Eintrag von den Tagen im Juni, als die IS-Kämpfer Mossul stürmten. Sie sei damals gerade in der Hauptstadt Bagdad bei Verwandten gewesen und habe ständig Angst um ihren Ehemann gehabt. Sie habe damals „die schlimmsten Tage“ ihres Lebens erlebt. Als sie nach zahlreichen Schwierigkeiten nach Mossul zurückgekehrt war, sei sie von den bewaffneten Banden und dem, was sie in den Straßen gesehen habe, „schockiert“ gewesen. Die ersten Tage habe sie sich nicht aus dem Haus gewagt, bis sie sich schließlich an die neuen Verhältnisse gewöhnt habe, „aber das waren Momente, die ich nie vergessen werde“.
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