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Armut ist oft weiblich

1,2 Millionen Menschen sind in Österreich laut Statistik Austria armutsgefährdet - das sind fast 15 Prozent der Bevölkerung. 434.000 Menschen oder fünf Prozent gelten als manifest arm. Die offensichtliche Armut - Menschen, die auf der Straße sitzen und um Geld betteln - sei allerdings nur die Spitze des Eisberges, sagte Caritas-Präsident Michael Landau Ende Oktober bei einer Pressekonferenz in Graz.

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Das Problem der Armut habe längst die Mitte der Gesellschaft erreicht - immer mehr Familien stellten sich jeden Monat die Frage, ob sie mit dem gerade vorhandenen Geld die Miete zahlen, die Wohnung heizen oder Essen einkaufen sollten, so Landau. Not spiele sich immer öfter hinter den Wohnungstüren ab. Vor allem alleinerziehende Mütter wüssten oft nicht, wie sie ihren Kindern warme Winterkleidung und Schulsachen kaufen können oder wie sie das Kinderzimmer im Winter heizen sollen.

Armutsgefährdet bedeutet, mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung auskommen zu müssen. Die Armutsgrenze bezeichnet ein Einkommen, unterhalb dessen der Erwerb des Lebensnotwendigen nicht mehr möglich ist.

„Froh, ein Dach über dem Kopf zu haben“

ORF.at hat auf Einladung der Caritas drei Einrichtungen in Wien und Graz besucht, an die sich Menschen wenden können, die nicht mehr wissen, wohin. Im „Juca“ in Wien-Ottakring etwa finden junge Erwachsene seit 1982 vorübergehend Zuflucht. Ziel der Einrichtung ist es, den jungen Menschen dabei zu helfen, in der Zukunft selbstständig und eigenverantwortlich zu leben. Dabei gehe es etwa auch um das Erlernen von „ganz banalen Alltagsfertigkeiten wie Einkaufen, Kochen und Putzen“, so Andrea Fichtinger-Müller, stellvertretende Leiterin des „Juca“. Was die Bewohner und Bewohnerinnen des „Juca“ gemeinsam haben, sind „die sehr schwierigen familiären Verhältnisse und das fehlende soziale Netz“.

Zaklina

ORF.at/Romana Beer

„Das ‚Juca‘ ist ein schönes Haus“, findet die 18-jährige Zaklina

Die 18-jährige Zaklina ist seit einem halben Jahr im „Juca“. Früher wohnte sie bei ihren Eltern und machte eine Lehre im Verkauf bei einer großen Bäckereikette. Wegen ihrer Epilepsie und den immer wiederkehrenden Anfällen habe ihr Arbeitgeber ihr eine einvernehmliche Kündigung nahegelegt, erzählt sie gegenüber ORF.at. Eine Woche nach ihrem 18. Geburtstag hätten sie dann ihre Eltern von zu Hause rausgeworfen. Danach lebte Zaklina monatelang auf der Straße und übernachtete oft in Notschlafstellen. "Ich bin froh, dass ich jetzt hier im „Juca" bin und ein Dach über dem Kopf habe“, sagt Zaklina. Sie hofft, bald wieder eine Lehrstelle als Einzelhandelskauffrau zu haben.

„Kein Anlass, die Hände in den Schoß zu legen“

Nicht nur Eltern, auch Kinder verlieren durch die Arbeitslosigkeit ihrer Eltern und die daraus resultierende Armut den Anschluss an die Gesellschaft. Das beginne schon damit, dass Kinder aus armen Familien oft keine anderen Kinder zu sich nach Hause einladen könnten und als Folge auch selbst nicht eingeladen würden, so Franz Küberl, Direktor der Caritas Graz-Seckau.

Caritas-Präsident Michael Landau und Caritas Direktor Franz Küberl

ORF.at/Romana Beer

Caritas-Präsident Michael Landau (l.) und Direktor der Caritas Steiermark, Franz Küberl (r.)

Der Sozialstaat wirke zwar, spielt Landau auf Sozialminister Rudolf Hundstorfer (SPÖ) an, der vergangene Woche angesichts der aktuellen Daten zu Armut und Ausgrenzungsgefährdung von einem „wirkungsvollen Sozialstaat“ gesprochen hatte. Allerdings: Es gebe keinen Anlass, die Händen in den Schoss zu legen, so Landau, „die Kluft zwischen Arm und Reich muss kleiner werden“.

Einem Drittel der Menschen, die bei der Caritas Hilfe suchen, stehen nach Abzug der Fixkosten maximal 185 Euro im Monat zur Verfügung - davon müssen noch Essen, Hygieneartikel, Kleidung, Fahrscheine und Schulaktivitäten bezahlt werden. Mit so wenig Geld den Alltag zu meistern sei nicht nur sehr schwierig, sondern auch ein massiver Stressfaktor, der krank mache. „Gerade Mütter und Kinder geraten oft unbemerkt in Not“, so Landau.

„Not schläft nicht“

Im „Haus Elisabeth“ in Graz-Eggenberg können Frauen und deren Kinder bis zu drei Wochen in der Notschlafstelle bleiben und bis zu eineinhalb Jahre im betreuten Wohnen. Die Lebensgeschichten der Frauen, die ins „Haus Elisabeth“ kommen, sind geprägt von materieller und sozialer Not, viele sind psychisch krank. Immer öfter würden Mütter mit mehreren Kindern und ältere Frauen über 75 im „Haus Elisabeth“ Zuflucht suchen, beobachtet Leiterin Maria Bauer.

Maria Bauer, Leiterin des "Haus Elisabeth"

APA/Georg Hochmuth

„Not schläft nicht“, sagt Maria Bauer, Leiterin des „Hauses Elisabeth“

Die 20 Plätze in der Notschlafstelle - 14 für Frauen und sechs für Kinder - sind so gut wie ständig belegt, aber mitten in der Nacht eine Frau samt Kindern wegschicken, das bringt Bauer nicht übers Herz: „Dann legen wir halt noch eine Matratze auf den Boden und schauen am nächsten Tag weiter.“ Geld für eine intensivere Betreuung wäre wichtig, so die diplomierte Sozialarbeiterin, „wir können oft wirklich nur die Feuerwehr spielen“.

In Bauers Team von fünf Mitarbeiterinnen und knapp 30 Freiwilligen sind auch Männer. Das sei ihr unter anderem deshalb wichtig, „damit unsere Frauen sehen, dass es Männer gibt, die freundlich und auf Augenhöhe sind und von denen sie nichts befürchten müssen“. Zu viele negative Erfahrungen bringen die Frauen mit, die im „Haus Elisabeth“ Zuflucht suchen.

Bewohnerin im "Haus Elisabeth"

ORF.at/Romana Beer

400 Frauen und Kinder werden jährlich im „Haus Elisabeth“ betreut

Manchmal, wenn eine ganze Familie durch Delogierung obdachlos wird, kommt die Mutter mit den Kindern ins „Haus Elisabeth“ und der Vater in die „Arche 38“ in Graz-Gries. „Die Familien werden dadurch zerissen“, so Bauer, deshalb starte gerade ein Projekt, bei dem Familien mit Mutter, Vater und Kindern gemeinsam betreut werden.

In der „Arche 38“ gibt es neben einer Notschlafstelle zwei betreute Wohngemeinschaften für Männer. 16.000 Männer übernachteten jährlich in der „Arche“, 12.000 kämen zum Duschen, erzählt Leiter Michael Lintner. Maximal 30 Nächte kann man in der Notschlafstelle verbringen, die erste ist kostenlos, dann ist ein Euro pro Nacht fällig, als „pädagogischer Effekt“. Wenn einer einmal keinen Euro hat, würden sich die Männer auch gegenseitig aushelfen, so Lintner.

Delogierung mit fast 70

Der 75-jährige Josef hat die Zeit, als er in einer der beiden Wohngemeinschaften der „Arche“ lebte, in guter Erinnerung. Nachdem seine Frau starb, blieb er alleine mit dem damals achtjährigen Sohn zurück. Als dieser 18 wurde und die Kinderbeihilfe wegfiel, sei er mit seiner Pension von 660 Euro nicht mehr ausgekommen, erzählt der gelernte Installateur. Weil er nicht genug Geld für die Wohnkosten hatte, zweigte er Strom ab - und wurde daraufhin delogiert.

Josef, ein ehemaliger Bewohner der "Arche 38"

APA/Georg Hochmuth

Josef auf dem Balkon seiner ehemaligen WG: „Mir ist es gut gegangen hier.“

Die Stromnachzahlung und andere Schulden kamen noch dazu - „und in kurzer Zeit war ich da heroben“, erinnert sich Josef. Das war vor sechs Jahren. Es sei eine Überwindung gewesen, in die Notschlafstelle zu gehen: „Ein bissl falscher Stolz war dabei. Ich hab geglaubt, man muss da betteln. Aber das muss man nicht.“ Durch die niedrige Miete in der „Arche“ konnte er sparen und seine Schulden zurückzahlen. Seit Juli hat Josef nun wieder eine eigene Wohnung in Graz, die er mit Hilfe von Spenden einrichten konnte. Bis heute hat er guten Kontakt zur „Arche“: „Das muss ich ja. Es ist mir ja gut gegangen hier.“

Romana Beer, ORF.at

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