Werben um „digitale Revolutionäre“
Gern lobt sich Estland als die am weitesten fortgeschrittene Informationsgesellschaft - wobei das besondere Engagement für den Ausbau digitaler Dienste längst bis über die Grenzen des Landes hinaus bekannt ist. Nicht von ungefähr kommt es, dass der neue EU-Kommissar für den digitalen Binnenmarkt, Andrus Ansip, Este ist. Doch der selbst ausgerufene Pioniergeist ist noch nicht gestillt, wie eine neue Initiative zeigt.
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So ließ die estnische Regierung kürzlich ein Projekt anlaufen, das es „Bürgern aus aller Welt“ ermöglicht, um einen digitalen Wohnsitz in Estland anzusuchen. Jeder, der die damit verbundenen „weltbesten digitalen Dienste von überall in der Welt aus nutzen“ will, kann einen eigens dafür konzipierten „digitalen Ausweis“ beantragen, heißt es auf der offiziellen Plattform E-Estonia.com.
Signaturen, E-Banking, Verschlüsselungen
Ist man in Besitz einer solchen von der Republik Estland ausgestellten Chipkarte, kann man etwa digitale Signaturen leisten, ein Unternehmen eintragen lassen, E-Banking-Geschäfte abwickeln und Dokumente verschlüsseln, heißt es. Besonders nützlich sei die Karte für all jene, die bereits eine Beziehung zu Estland hätten und dort beispielsweise arbeiteten, studierten oder einfach nur Urlaub machten.

Elektrooniline Riigi Teataja
So wird die Chipkarte aussehen - Vorder- bzw. Rückseite
Doch bei allem Drang der Initiatoren, allen ein Stück Estland zu geben und sie damit zu einem „Teil der digitalen Revolution“ werden zu lassen, gibt es auch Grenzen, wie klargestellt wird: Die Karte sei kein Ausweis oder gar ein Reisedokument - schließlich sei auch kein Foto eingearbeitet. Es handle sich lediglich um eine Chipkarte, der Zugriff auf Serviceleistungen erfolgt mittels eines USB-Kartenlesegeräts.
Doch noch muss eine erfolgreiche Beantragung bzw. ein Erhalt der Karte ab Jahresende mit einer Reise nach Estland verbunden sein - auf einer Polizeistation oder auf dem Grenzschutzamt müssen Fingerabdrücke und ein Gesichtsprofil erstellt werden. Nach Angaben des Regierungsbüros ist die Resonanz auf die Initiative derzeit größer als erwartet. Gleichzeitig gehe es darum, das Projekt nach Anlaufen sukzessive zu vergrößern.
Weit mehr E-Esten als Esten
Und auch daran wird bereits intensiv gearbeitet: Bis Ende 2015 sollen auch in estnischen Botschaften rund um die Welt Anträge entgegengenommen bzw. Karten ausgestellt werden. Estnischer E-Bürger kann man dann auch ohne eine Reise in den Norden werden - die Kosten bleiben mit 50 Euro pro Karte aber nach derzeitigem Stand dieselben.
Im Idealfall soll es am Ende weit mehr E-Esten geben als echte Esten: „Geträumt“ wird von zehn Millionen E-Esten bis zum Jahr 2025, wie das estnische Regierungsamt gegenüber ORF.at erklärt - bei derzeit etwa 1,3 Millionen Einwohnern ein durchaus ambitioniertes Ziel. In der Projektphase habe man die Zahl noch mit 5.000 bis 10.000 bis zum Jahr 2020 angegeben, erst im Laufe der Projektarbeit hätten sich die Erwartungen deutlich gesteigert, heißt es von den Verantwortlichen.
Unternehmen aus dem Ausland anlocken
Die Initiative, die E-Government-Lösungen über die estnische Grenze hinauszutragen, entstand freilich nicht ohne dahinterliegende Intention: Wie das estnische Regierungsbüro gegenüber ORF.at erklärt, geht es in erster Linie darum, ein aus estnischer Sicht „sehr bewährtes Modell“ an ein neues Publikum heranzuführen.
Hierbei geht es vor allem um estnische Unternehmen, die mit solchen Lösungen bereits arbeiten. Im Zuge dessen sollen auch Unternehmen aus dem Ausland auf die Vorteile aufmerksam werden. Einerseits richtet sich das Angebot an Unternehmen, die bereits mit estnischen Firmen zusammenarbeiten - andererseits sollen mit der Initiative weitere ausländische Geschäftstreibende für eine Zusammenarbeit mit einem estnischen Unternehmen gewonnen werden.
Das ist auch der Hintergrund dieser nun global ausgerichteten Strategie. Daneben geht es für die Regierung in Tallinn darum, sich nach außen wieder einmal als Vorreiter bei digitalen Lösungen zu profilieren. Wichtig dabei sei nur, heißt es aus Tallinn, dass auch andere EU-Länder ihre digitalen Services für die Nutzung mit ausländischen IDs kompatibel machten.
Nichts zu machen ohne „ID kaart“
Innerhalb Estlands ist die Verwendung eines Personalausweises für alle Esten bereits seit Jahren als Teil es öffentlichen Lebens essenziell. Tatsächlich gibt es in Estland ohne die vom Staatsbürgerschafts- und Migrationsamt ausgestellte „ID kaart“ fast kein Durchkommen. Auf dieser Karte gibt es ein Foto, sie dient - wie ein österreichischer Personalausweis - auch als Reisedokument innerhalb der EU, allerdings nur für Esten. Doch besonders wichtig ist sie innerhalb Estlands - nicht nur für Esten selbst, sondern auch für alle, die in Estland wohnen.
Bis zu 600 Dienste lassen sich für Privatpersonen in Anspruch nehmen - etwa für Zeitkarten aller Art, von öffentlichen Verkehrsmitteln bis hin zur Fischereierlaubnis. Für Unternehmen sind es mit 2.400 noch weit mehr Angebote. Überhaupt sind viele Dienste bereits auf Onlinebetrieb umgestellt - Steuerformulare gibt es praktisch nicht, und auch der Bedarf an Stimmzetteln bei Wahlen ist weit geringer als die Zahl der Wähler, schließlich stimmen die meisten Esten ohnehin online ab.
„Keine andere Chance“
Erst kürzlich würdigte auch die „New York Times“ („NYT“) die digitale Ausrichtung Estlands als bemerkenswert und die Transformation von einem Teil der Sowjetunion hin zu einem „der am meisten vernetzten Länder, dessen Fortschritt vorwiegend auf eigens entwickelten Technologien basiert“. Das sei noch dazu, so merkte die „NYT“ an, mit äußerst begrenzten finanziellen Mitteln geschehen. Der Grund für die digitale Ausrichtung ist aus US-amerikanischer Sicht jedenfalls klar: Estland hatte „keine andere Chance“.
Valentin Simettinger, ORF.at
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