Meister der Erzählung
Siegfried Lenz, einer der großen Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur, ist tot. Lenz’ wichtigstes Werk ist der in viele Sprachen übersetzte und verfilmte Roman „Deutschstunde“ (1968) über die Nazi-Zeit und einen falsch verstandenen Pflichtbegriff. Der Ostpreuße galt vor allem als Meister der Erzählung. Dafür stehen humorvolle Bände wie „So zärtlich war Suleyken“ (1955) und „Lehmanns Erzählungen“ (1964).
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Lenz starb am Dienstag im Alter von 88 Jahren im Kreise der Familie, wie der Verlag Hoffmann und Campe mitteilte. Seit Jahren war Lenz gesundheitlich schwer angeschlagen. Bereits auf den Rollstuhl angewiesen, hatte der Autor in den letzten Jahren ein Appartement in einer Hamburger Seniorenresidenz an der Elbchaussee mit freiem Blick auf den Elbstrom. Im September 2013 besuchte er noch das Hamburger Filmfest und sah sich die Verfilmung seiner Kurzgeschichte „Die Flut ist pünktlich“ an.

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Siegfried Lenz und Günter Grass
Aussöhnung mit Polen und Israel
Neben den Nobelpreisträgern Heinrich Böll und Günter Grass gehörte Lenz zu jenen Autoren, die die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die Aussöhnung insbesondere mit Polen und Israel als Lebensaufgabe verstanden. Bei einem Festakt zum 85. Geburtstag am 17. März 2011 in Hamburg würdigte der damalige Bundespräsident Christian Wulff, wie sehr Lenz zum wiedergewonnenen Ansehen Deutschlands nach dem Krieg beigetragen habe. Der Börsenverein würdigte Lenz 1988 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Noch im hohen Alter gelang Lenz mit seiner ersten Liebesnovelle „Schweigeminute“ ein Bestseller.
„Deutschstunde“ als Schlüsselwerk
Die „Deutschstunde“ (1968) gilt als Lenz’ Schlüsselwerk zur Aufarbeitung der Nazi-Zeit und historischer Schuld. Darin geht es um einen Vater-Sohn-Konflikt - stellvertretend für die Kriegsgeneration und die rebellierende Folgegeneration - sowie um die fatalen Folgen eines unkritischen Pflichtbewusstseins in der NS-Zeit.
In dem ebenfalls verfilmten Roman „Heimatmuseum“ (1978) lässt Lenz die verlorene ostpreußische Heimat literarisch wiederauferstehen und schenkt so zumindest einem Teil der Vertriebenen inneren Frieden. Die Hauptfigur, der masurische Teppichwebermeister Zygmunt Rogalla, verbrennt das von ihm einst gerettete Heimatmuseum, um es vor ideologischem Missbrauch zu retten.
Jugend als „traumatisches Erinnerungsgepäck“
Um das Werk zu verstehen, ist bei Lenz ein Blick auf die Biografie noch wichtiger als bei anderen Autoren. „Traumatisches Erinnerungsgepäck“ begleitet ihn aus Kindheit und Kriegsjugend. Am 17. März 1926 wird Lenz in der ostpreußischen Kleinstadt Lyck, der „Perle Masurens“, als Sohn eines Zollbeamten geboren. Die Ehe der Eltern scheitert, der Bub wächst bei der Großmutter auf. Über seinen Vater sagt er: „Ich hatte gar keine Beziehung zu ihm.“ Als Bub bricht Lenz im Eis ein und ertrinkt fast im Lycker See.
Der „Pimpf“ Siegfried ist glühend bei der Sache, steht Spalier, wenn es NS-Größen nach Lyck verschlägt. Doch die Verführungen des NS-Regimes werden mit dem Kriegseinsatz seit 1944 auf dem Panzerkreuzer „Admiral Scheer“ durch die grausame Wirklichkeit entlarvt. In den letzten Kriegsmonaten wird Lenz nach Dänemark versetzt.
In Dänemark desertiert
Wenige Tage vor Kriegsende desertiert Lenz, nachdem jemand liquidiert worden war: „Sie brauchten einen Toten, um uns an ihre Macht zu erinnern.“ Kriegsgefangenschaft, ein mit Schwarzhandel finanziertes, abgebrochenes Lehramtsstudium und Journalismus folgten, ehe Lenz nach seinem erfolgreichen Debütroman „Es waren Habichte in der Luft“ (1951) sein Brot als freier Schriftsteller verdiente. Anfangs ließ sich Lenz stark beeinflussen von Hemingway, Faulkner und den Existenzialisten Sartre und Camus.
Politisches Engagement
Auch politisch engagierte sich der Autor. 1970 begleitete er mit Grass den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrages. Außerdem mahnte Lenz Solidarität mit Israel an, als der damalige irakische Diktator Saddam Hussein den jüdischen Staat mit Raketen bedrohte. In den 60er und 70er Jahren engagierte er sich für die SPD, später kühlte das Verhältnis ab.

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Siegfried Lenz an seinem Schreibtisch
Besonderen Erfolg hatte der begnadete Erzähler mit seinen vergnüglichen Kurzgeschichten. Unvergessen ist sein legendärer Erzählband „So zärtlich war Suleyken“ mit humorvollen Geschichten aus Ostpreußen. Publikumserfolge wurden auch „Lehmanns Erzählungen“, die amüsant geschriebenen Erfahrungen eines Schwarzhändlers nach dem Zweiten Weltkrieg.
Zahlreiche Verfilmungen
Seine Werke sind nach Angaben des Hoffmann und Campe Verlags (Hamburg), dem Lenz seit Beginn seiner schriftstellerischen Arbeit sein Leben lang die Treue hielt, in mindestens 35 Sprachen übersetzt. Die Weltauflage dürfte bei über 30 Millionen liegen.
Ein Millionenpublikum fanden die Fernsehverfilmungen „Der Mann im Strom“, „Das Feuerschiff“ und „Die Auflehnung“, jeweils mit Jan Feddersen in der Hauptrolle. Das breite Oeuvre von Lenz umfasst Romane, Erzählbände, Theaterstücke, Hörspiele und Essays - etwa über das Selbstverständnis des Schriftstellers als „Einmannpartei“. Nicht alle seiner Werke wurden bejubelt. Einige Romane beschrieben Kritiker als stilistisch veraltet oder tadelten die Figuren als blutleer.
TV- und Radio-Hinweis
ORF III sendet Mittwoch, in der Sendung „KulturHeute“ um 20.00 Uhr einen Nachruf. Ö1 sendet am Mittwoch um 11.40 Uhr in den „Radiogeschichten“ die Erzählung „Einmal schafft es jeder“.
„Ich schreibe einfach weiter“
Lenz schrieb bis ins hohe Alter. 2012 veröffentlichte er sein „Amerikanisches Tagebuch 1962“, in den vergangenen Jahren erschienen zudem einige Erzählbände. „Ich bemerke an mir selbst, dass ich permanent arbeite, weil ich versuche, dem, was ich erfahre, eine Fassung zu geben“, sagte er 2009 dem „Hamburger Abendblatt“. „Ich schreibe einfach weiter.“ Lenz verwies auf ein Zitat von Albert Camus, wonach man „sein Leben rechtfertigen“ müsse. „Irgendwann im Alter wird sich eine Legitimation zeigen, wenn du das vorgelegt hast, was du glaubst, präsentieren zu können.“
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