Themenüberblick

Der Westen prescht vor

Im neuen Bildungsprogramm, das die Regierung Ende September vorgestellt hat, wird das seit Jahrzehnten umstrittene Thema Gesamtschule mit keinem Wort erwähnt. Es sei der Regierung damit gelungen, die Bildungsdebatte von einzelnen Begriffen wie der Gesamtschule „zu entkrampfen“, so ÖVP-Chef und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner bei der Präsentation.

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Die SPÖ, mit der die ÖVP seit Jahrzehnten intensive Kontroversen über die Gesamtschule austrägt, hält sich seitdem tatsächlich weitgehend zurück. Innerhalb der ÖVP scheint die Ablehnung gegenüber der Gesamtschule allerdings zu bröckeln. Ausgerechnet ÖVP-Landeshauptleute preschen mit Modellregionen zur gemeinsamen Schule der Zehn- bis 14-Jährigen vor. Das jüngste Beispiel ist Vorarlberg, wo seit Anfang Oktober die neue Koalition aus ÖVP und Grünen fix ist.

Zankapfel Gesamtschule

Bei der Gesamtschule, wie sie in vielen europäischen Staaten Standard ist, findet die Differenzierung nach Begabungen innerhalb der Schule statt. Es wird nicht zwischen verschiedenen Schulformen unterschieden. Nach der zehnten Schulstufe können die Schülerinnen und Schüler in eine gymnasiale Oberstufe oder in berufliche Ausbildungslehrgänge wechseln.

Kein flächendeckendes Modell

Die neue Landesregierung unter Landeshauptmann Markus Wallner (ÖVP) tritt für einen regionalen Schulversuch „Gemeinsame Schule“ ein. „Wir fördern Begabte wie Schwächere gleichermaßen und lassen dabei kein Kind zurück“, so Wallner vergangene Woche bei der Präsentation des Arbeitsprogramms mit dem designierten Landesrat Johannes Rauch (Grüne).

Am Mittwoch konkretisierte Wallner im Interview mit Ö1, dass es das von den Grünen geforderte landesweite Modell nicht geben werde: „Wenn man ein ganzes Bundesland von heute auf morgen umstellen würde, dann bin ich mir sicher, dass das ein großer Flop wäre.“ Also soll ähnlich wie in Tirol und Salzburg ein Schulversuch im Wettbewerb mit den Gymnasien definiert werden. In den Verhandlungen mit den Grünen sei das einer der harten Punkte gewesen, sagte Wallner - mehr dazu in oe1.ORF.at. Im Regierungsprogramm heißt es, man wolle einen „Vorschlag für einen regionalen Schulversuch ‚Gemeinsame Schule‘“ entwickeln. Der Schulversuch, so er zustande kommt, wird regional beschränkt sein.

Grüne sehen Rheintal als mögliche Modellregion

Die Grünen, die damit von einer ihrer zentralen Forderungen im Wahlkampf abrücken mussten, sprechen dennoch von einem „Schlüsselprojekt“. Als mögliche Modellregion für den Schulversuch brachte Rauch im Ö1-Mittagsjournal das Rheintal mit seinen rund 180.000 Bewohnern ins Spiel. Die konkrete Region werde aber erst im Mai 2015 definiert, so Rauch. Der Umfang der Modellregion sei im Arbeitsprogramm offen geblieben, so Rauch. Er gehe aber davon aus, dass es „ein sehr weitreichender Versuch“ sein werde. Man werde „deutlich über das hinausgehen, was in Salzburg und Tirol angedacht ist“ - mehr dazu in oe1.ORF.at.

Glawischnig sieht „deutlich grüne Handschrift“

Wallner und Rauch zufolge sieht das Bildungspaket außerdem die Stärkung der Frühpädagogik, eine Verdoppelung des Angebots an Ganztagsschulen und die Abschaffung der Ziffernnoten in den ersten beiden Volksschulstufen vor. „Im Bildungskapitel haben wir einen Durchbruch geschafft“, so Rauch erfreut.

Die Parteichefin der Grünen, Eva Glawischnig, sieht im Vorarlberger Regierungsprogramm eine „deutlich grüne Handschrift“. Das „festgeschriebene Ziel einer Modellregion für eine gemeinsame Schule“ sei ein klares Signal für die Bundesregierung, vom Reden endlich ins Handeln zu kommen, so Glawischnig vergangene Woche in einer Aussendung.

Laut ÖVP-Chef Mitterlehner lassen sich aus der Vorarlberger Einigung auf eine Modellschulregion keine Auswirkungen auf die Bundes-ÖVP schließen. Man werde das Thema in der bereits eingesetzten Bildungsreformgruppe diskutieren und eine „konsensuale Lösung“ finden, so Mitterlehner am Rande des Ministerrats gegenüber Journalisten.

„Leuchtturm“ Zillertal

Im ebenfalls schwarz-grün regierten Tirol startete mit der Modellregion Zillertal bereits in diesem Schuljahr die Gesamtschule. Das Zillertal sei somit Österreichs erste und einzige Region, in der die gemeinsame Schule der Zehn- bis 14-Jährigen umgesetzt werde, so Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) Anfang September bei einer Pressekonferenz. Tirol wolle zeigen, dass die gemeinsame Schule ein Erfolgsmodell sei, so Platter.

Platters Stellvertreterin Ingrid Felipe (Grüne) bezeichnete das Zillertal in Bildungsfragen als „Leuchtturm für Tirol, ja für ganz Österreich“. In der gemeinsamen Schule stehe „Kooperation statt Konkurrenz“ im Vordergrund. Zudem gehe es darum, dass Entscheidungen über den weiteren Bildungsweg vertagt werden. Auch die Eltern sollen vermehrt eingebunden werden. Bildung sei erblich, so Felipe, und da solle ein „modernes Schulkonzept entgegenwirken“.

Gehrer unterstützt Gesamtschulgegner

Doch auch die Gegner der Gesamtschule formieren sich. Die neu gegründete Bürgerinitiative „Pro Gymnasium“ fordert den Erhalt des achtjährigen Gymnasiums. Neben zahlreichen AHS-Professoren und -Professorinnen, ehemaligen Landesschulinspektoren und -räten findet sich unter den Unterstützern der Initiative auch die ehemalige ÖVP-Bildungsministerin Elisabeth Gehrer.

„Pro Gymnasium“ fordert außerdem die „Aufhebung der Blockade einer sachlichen Bildungsdebatte durch Beendigung der Gesamtschuldiskussion“, wie es auf der Website der Initiative heißt. Eckehard Quin, Vorsitzender der AHS-Gewerkschaft in der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst (GÖD), begrüßte Anfang Oktober die Gründung von „Pro Gymnasium“ in einer Aussendung, denn „sinnlose bis sinnwidrige Strukturdebatten bringen uns nicht weiter“.

Für manche Jugendliche sei das Gymnasium der optimale Weg, so Quin, für andere wiederum sei dieser eine Ausbildung, wie sie die berufsbildenden Schulen vermitteln. Die Vielfalt der Bildungswege beschere Österreich die mit Abstand niedrigsten Jugendarbeitslosigkeitsraten in der EU. „Eine One-size-fits-all-Schule - egal unter welchem Tarnnamen - kann das unmöglich leisten“, so Quin.

„Tabus werden gesprengt“

Nach dem Rücktritt des ehemaligen Vizekanzlers Michael Spindelegger (ÖVP) hatten viele einen Kurswechsel der ÖVP in Sachen Bildungspolitik erhofft bzw. befürchtet. Dass Mitterlehner kurz nach seiner Ernennung zu Spindeleggers Nachfolger unter anderen Andreas Salcher, den früheren Wiener ÖVP-Kultursprecher und Mitgründer der Karl-Popper-Schule für Hochbegabte, als Ideengeber für Reformen anheuerte, feuerte diese Vermutungen an. Salcher, der als Gegner der frühen Selektion im Schulwesen gilt, sagte Anfang September im Interview mit der Tageszeitung „Österreich“: „Ich glaube, dass mit der ÖVP unter Mitterlehner jetzt Blockaden fallen und Tabus gesprengt werden.“

Der Wirtschaftskammer-Präsident und Chef des ÖVP-Wirtschaftsbundes, Christoph Leitl, sprach sich Ende Juli in einem Interview mit dem „Standard“ indirekt für die Gesamtschule aus: Es brauche „eine gemeinsame Schule mit Begabungsdiffenzierung“. Die SPÖ-nahe Aktion kritischer Schüler_innen (AKS) ortete damals ein „Bröckeln der Fassade der konservativen ÖVP“. Die von Leitl geforderte „gemeinsamen Schule mit Begabungsdifferenzierung“ sei grundsätzlich das Prinzip der Gesamtschule, auch wenn er sich offensichtlich nicht traue, dieses Wort in den Mund zu nehmen, so die AKS in einer Aussendung.

Auch der Bildungssprecher der FPÖ, Walter Rosenkranz, sah noch Ende August die Gesamtschule im Kommen: Nach dem Abgang Spindeleggers sei ein „ÖVP-Umfaller bei der Gesamtschule vorprogrammiert“. Spindelegger sei - auch in seiner eigenen Partei - einer der letzten Verteidiger der AHS-Langform gegen die Gesamtschulromantiker gewesen, so Rosenkranz Ende August in einer Aussendung. Mit Spindeleggers Abgang sei nun auch diese Position im Wackeln, befürchtete Rosenkranz.

Romana Beer, ORF.at

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