Gefährliche Selbstdiagnosen
Seit „bio“ gibt es wohl kein größeres Ernährungsthema: Seit einigen Jahren sind Nahrungsmittelunverträglichkeiten allgegenwärtig. Laktose, Histamin, Fruktose und allen voran Gluten - laut einer aktuellen Umfrage glauben 17 Prozent aller Österreicher, an einer Lebensmittelintoleranz zu leiden. Und die Studie wirft auch gleich eines der Hauptprobleme auf. Nur die Hälfte der Betroffenen hat sich ihr Leiden auch medizinisch bestätigen lassen.
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Und in vielen Fällen ist das auch gar nicht so einfach. Was etwa landläufig unter einer Unverträglichkeit des in Getreide enthaltenen Klebereiweißes Gluten gehandelt wird, kann drei verschiedene Ursachen haben. Der seltenste Fall ist eine Weizenallergie, häufiger ist Zöliakie, eine nicht allergische immunologische Erkrankung. Und der wohl häufigste Fall ist eine Intoleranz, die sogenannte Glutensensitivität.
Beschwerden durch Abwehrstoff
Doch genau dieser Bereich ist auch wissenschaftlich noch nicht völlig geklärt. Denn es scheinen andere Eiweißstoffe als Gluten zu sein, die Beschwerden auslösen. Amylase-Trypsin-Inhibitoren (ATI) sind Abwehrstoffe der Getreideähren gegen Schädlinge, so Harald Vogelsang von der Spezialambulanz für Zöliakie im Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH) gegenüber ORF.at.
ATI lassen Parasiten die Stärke nicht verdauen - und rufen auch immunologische Reaktionen bei Menschen hervor, verweist Vogelsang auf entsprechende In-vitro-Studien der deutschen Forscher Yvonne Junker und Detlef Schuppan. Den Anstieg der Beschwerden in den vergangenen Jahren erklärt sich Vogelsang auch damit, dass Getreidesorten mit hohem Stärke- und damit ATI-Anteil gezüchtet wurden.
Schwierig festzustellen
Während maximal ein Prozent der Mitteleuropäer an Zöliakie leidet, wird der Anteil an Menschen mit Glutensensitivität auf rund sechs Prozent geschätzt. Das Problem ist aber, wie auch bei anderen Intoleranzen, dass es hierfür keinen einfachen Test gibt. Für die Nahrungsmittelindustrie ist das allerdings kein Problem - im Gegenteil, lässt sich damit doch gutes Geld verdienen.
In den USA begann der Glutenfrei-Hype etwa 2012, im Vorjahr ergab eine Umfrage, dass 30 Prozent der Befragten sich glutenfrei ernähren wollen. Befeuert von einem Medienboom und zwei „Sachbüchern“, die alles Übel der Ernährung im Getreide entdeckt haben wollten, explodierte auch das Angebot von entsprechenden Lebensmitteln.
Milliardenumsätze der Industrie
Allein in den USA ist glutenfreie Ernährung mittlerweile ein Milliardengeschäft. Die Schätzungen der Umsätze variieren stark - je nach Marktforschungsinstitut wurden für 2013 zwischen drei und 20 Milliarden US-Dollar angegeben, die umgesetzt wurden. Über die enormen Zuwachsraten, die sich auch noch in den kommenden Jahren fortsetzen werden, sind sich die Studien allerdings einig.
„Sensibelchen“ seien als lukrative Zielgruppe entdeckt worden, nannte das die „Zeit“. Da hilft es auch wenig, dass mittlerweile praktisch im Tagesrhythmus auf der ganzen Welt Artikel erscheinen, die dem weitverbreiteten Irrglauben widersprechen, eine glutenfreie Diät sei besonders gesund oder helfe beim Abnehmen.
Bedenkliche Diäten
Vor den Folgen des Hypes warnt auch Vogelsang: Jeder, „der irgendein Bauchweh hat“, probiere ohne ärztliche Konsultation irgendeine Diät. Manchmal seien die Beschwerden Stresssymptome und hätten wenig mit der Ernährung zu tun. Gesundheitlich bedenklich werde es vor allem, wenn Diäten akkumuliert würden. Dadurch werde der Speiseplan eingeengt, spätestens bei Gewichtsabnahme bei ohnehin schon dünnen Menschen werde es gefährlich.
Zudem könne bei einer glutenfreien Diät auch nicht mehr festgestellt werden, ob tatsächlich eine Zöliakie vorliege. In der konkreten Behandlungssituation sei das ein Dilemma, so Vogelsang: Patienten, denen es durch ihre glutenfreie Ernährung tatsächlich besser gehe, müsse man raten, einige Monate glutenhältig zu essen. Erst dann seien Zöliakieantikörper feststellbar, mit der eine Erkrankung eindeutig nachzuweisen sei.
Hype treibt bizarre Blüten
Ärzte wie auch Diätologen warnen jedenfalls vor Selbstdiagnosen und Herumexperimentieren. Zuerst sei eine genaue und fundierte ärztliche Diagnosestellung unabdingbar, sagte Andrea Hofbauer, Präsidentin des Verbandes der Diaetologen Österreichs, heuer in Wien bei einem Kongress zu Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Und mit pauschalen Ernährungsempfehlungen sei es sicher auch nicht getan.
Welche Blüten der Trend treibt, zeigen Blicke in internationale Supermarktregale: In Spanien wird „glutenfreies“ Mineralwasser verkauft, in den USA gibt es etwa Preiselbeersaft, der als glutenfrei beworben wird - also allesamt Produkte, in denen Gluten ohnehin nicht vorkommen kann. Auch Tierfutterproduzenten und Make-up-Hersteller sind auf den Trend aufgesprungen.
Laktose, Fruktose und Co.
Ähnliche Trends sind auch bei anderen Nahrungsmittelunverträglichkeiten zu bemerken - und dabei sind Beschwerden wegen Gluten gar nicht die am weitesten verbreiteten Intoleranzen. So glauben laut der Umfrage im Auftrag der Forschungsgesellschaft Nutridis unter 1.000 Österreichern, Deutschen und Schweizern 11,5 Prozent, Laktose nicht zu vertragen.
5,7 Prozent sind es bei Fruktose, ein Wert, den Vogelsang als fast zu niedrig bemessen ansieht. Allerdings vermuten 7,8 Prozent eine Sorbitintoleranz, die laut dem Mediziner schwierig von einer Fruktoseunverträglichkeit zu unterscheiden ist. Und auch Galaktose- (4,5 Prozent) und Histaminintoleranzen (10,4 Prozent) seien medizinisch praktisch nicht zu testen.
Zudem scheint auch die Abgrenzung schwierig: Eine neuere australische Studie des Mediziners Peter Gibson etwa legt nahe, das die Kohlehydratengruppe der FODMAPs, zu der Laktose und Fruktose gehören, für Beschwerden verantwortlich sind, die eigentlich Gluten zugeschrieben werden. Die Erklärung liegt laut Vogelsang in der Versuchsanordnung: Eine FODMAP-freie Diät, die der Studie zugrunde lag, beinhalte auch kaum Nahrungsmittel, in der Gluten vorkommt.
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