Territorium der kleinen Sprachen
Literatur kann eine Unterhaltungsform sein. Oder ein Überlebensformat. Für die Autorin Sofi Oksanen - seit Romanen wie „Stalins Kühe“ international die zurzeit meistgelesene finnische Schriftstellerin - ist Literatur eng verbunden mit einem politischen Kampf. Das macht auch ihr Auftritt in Sozialen Medien deutlich, wo sie sich teils sehr plakativ in augenblickliche politische Debatten, allen voran die Russland-Ukraine-Krise, einmischt.
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Als Bürgerin eines Staates, der seine Identität gegen die Fremdherrschaft Russlands geformt hat, und als Tochter einer Estin reagiert Oksanen sensibel auf alle Übergriffe, die Russland derzeit auf dem europäischen Kontinent setzt. Themen wie politische Emanzipation und Kollaboration bilden den Kern ihrer Bücher - wie auch des gerade erschienenen historischen Thrillers „Als die Tauben verschwanden“.
Für Finnland, das wird im ORF.at-Gespräch mit Oksanen (geführt im Herbst 2014) deutlich, beginnt der Prozess der Unabhängigkeit stark angetrieben von weiblichen Schriftstellerinnen in der Mitte des 19. Jahrhunderts - und endet eigentlich erst mit dem Niedergang der Sowjetunion. Die Unabhängigkeit im Jahr 1917 sieht im Kontext ihrer Romane und ihren politischen Statements wie eine Zwischenetappe aus.

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Ständige Nähe zu Russland - „Die Literatur ist auch das Territorium des verlorenen Landes“, so Oksanen über die Schwierigkeiten des finnischen Kampfes um Selbstbestimmung
Wie eine bleierne Last lag für Oksanen die „Finnlandisierung“, die Anpassung des seit dem Zweiten Weltkrieg neutralen Landes, auf der finnischen Kultur und Identität nach 1945. Finnlandisierung zieht für die 1977 geborene Autorin mit Wurzeln in der estnischen Kultur eine unsichtbare Linie stets vorauseilender Anpassung. Wer das im Moment der Ukraine empfehle, so Oksanen, der leiste bei der Ausradierung einer eigenständigen Kultur durch einen mächtigen Nachbarn Vorschub.
Die Ukraine-Krise und das Baltikum
Russland, so Oksanen, unterminiere den Umstand, dass die Ukraine ein unabhängiger Staat mit eigenen Rechten ist. „Es ist noch nicht allzu lange her, dass die Welt zweifelte, dass Länder wie Estland als unabhängige Staaten überleben können.“ Und für Russland sei die Ukraine „ein kleines Russland“, kritisiert die Autorin, umso mehr müsse man daran erinnern, dass die Ukraine ein eigener Staat mit einer eigenen Identität ist.
„Sowohl die baltischen Staaten als auch Finnland waren lange Teil des russischen Reiches. All jene, die fern von diesen Ländern wohnten, nahmen gar nicht wahr, dass hier unterschiedliche Kulturen unter dem Dach eines großen Reiches wohnten. Und das erfährt im Moment die Ukraine am eigenen Leib.“

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Oksanen zeigt auch durch ihr Haar politische Haltung - eingeflochten sind stets die Farben Estlands
Der jungen Autorin ist wichtig, dass Nationen und Völker auch außerhalb ihres Landes bekannt sind. Gerade für diesen Vermittlungsprozess spiele Literatur eine entscheidende Rolle: „Würde niemand wissen, dass die finno-urgische Sprache eine eigene Sprache darstellt, würde man denken, das waren alles Russen unter dem Dach des russischen Reiches. Und die Menschen, die man heute im russischen Fernsehen als betroffene russische Bürger sieht, die Angst um ihre lokale Identität haben – dieselben Leute waren in den 1990er Jahren betroffene Russen, die sich vor einem unabhängigen Estland gefürchtet haben.“
Literatur als Schlüssel zur Unabhängigkeit
Unabhängigkeit und eine eigene Geschichte sind für Oksanen nicht ohne die Entwicklung einer eigenständigen Literatur in einer eigenen Sprache möglich. Die finnische Geschichte ist für sie die einer Emanzipation, der vor allem Frauen einen Stempel aufgedrückt hätten, sagte sie im Gespräch mit ORF.at anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2013.
„Ich erinnere mich an eine Zeit, als man in Estland Bücher in der eigenen Sprache nur unter besonderen Mühen erwerben konnte“, so Oksanen, aufgewachsen als Tochter einer Estin und eines Finnen, der viel in der Sowjetunion gearbeitet hatte. Zur Zeit der Sowjet-Herrschaft habe man in Estland ein eigenes soziales Netz gebraucht, um an Bücher zu gelangen.
„Jede Familie in Estland hatte ihr eigenes Bücherregal mit der Literatur in Estnisch. Und aus dieser Zeit kommen mein Interesse an Literatur und die Erkenntnis, dass Literatur etwas besonders Kostbares sein kann, wenn man zu ihr nur unter derart schwierigen Bedingungen gelangen kann“, erinnert sich die Autorin.
„Ohne eigene Sprache Bürger zweiter Klasse“
Wenn man seine eigene Sprache nicht pflege, werde man immer nur „ein Bürger zweiter Klasse“ sein, so Oksanen. Sie gab zu bedenken, dass sowohl Finnland als auch Estland eine junge Literaturgeschichte haben. Die eigene Literatur habe man erst 50 Jahre vor der Unabhängigkeit „entdeckt“. Und es seien in diesen Ländern gerade Frauen gewesen, die mit historischen Romanen auch einen politischen Emanzipationsprozess ausgelöst haben.
Politische Ereignisse werden konkret
Das Feld des historischen Romans, der sich in Finnland wie in kaum einem anderen Land ungebrochener Beliebtheit erfreut, möchte die Autorin auch für die Gegenwart kultivieren. Anhand von Familiengeschichten und den Widersprüchlichkeiten innerhalb dieser lassen sich für sie historische und politische Entwicklungen plastisch machen.
Die Familiengeschichte im Zentrum ihrer Bücher biete ihr die Möglichkeit, Effekte großer politischer Vorgänge sehr konkret zu machen. „Besetzung wird gern in großen Opferzahlen gemessen, doch auf der Ebene der Familie wird das erst konkret“, skizziert Oksanen ihren Zugang und fügt hinzu: „Es sind Familien, die durch solche Ereignisse auseinandergerissen wurden. Und die Familie ist die grundsätzlichste gesellschaftliche Einheit – und Okkupation wollte ja immer Familien zerreißen.“
Das verlorene Land in der Literatur
An Russland komme sie in ihren Romanen und der historischen Ausrichtung ihrer Stoffe nie vorbei, so Oskanen: „Es wäre seltsam, ein Buch über den Winterkrieg zu haben, in dem nichts über die UdSSR gesagt wird. Wenn wir über die Territorien nachdenken, die wir verloren haben, wie Karelien, dann sprechen wir nicht nur von einer halben Million Finnen, die von Karelien nach Finnland gekommen sind, sondern auch von einem Gebiet, das unsere Literatur stark prägt. Es geht um dieses verlorene Land, das aber eben immer noch in der Literatur existiert.“

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„Wer einen Roman über Finnland schreibt, kommt an Russland nicht vorbei“
Heikle nationale Frage und nordisches „Modell“?
Im Wissen um die Problematik des Begriffs möchte sich Oksanen der Frage der „nationalen Identität“ stellen. Überall in Europa gebe es Sprachgruppen, die sich mehr Freiheit wünschten. „Aber gleichzeitig gibt es die Problematik des Aufstiegs der Rechten“, so Oksanen, die hofft, dass „national“ nicht immer eine „Hidden Agenda“ bedeutet. „Kleine Sprachen überleben nun mal nicht ohne Liebe zur eigenen Sprache und Kultur.“
In Deutschland sei man sehr besorgt über alles, was mit dem Begriff „national“ zusammenhänge, und das verstehe sie auch: „Aber für kleine Kulturen ist die Liebe zum Eigenen ja eine Überlebensfrage.“ Die Frage, ob der europäische Kontinent vom Selbstverständnis und dem Stolz der nordischen Länder auf das Eigene lernen könne, beantwortet Oksanen sehr vorsichtig: „Es ist Teil der finnischen Bescheidenheit, dass wir nie auf die Idee kämen, uns als Modell für irgendwas und irgendjemanden zu empfehlen.“
Aber man sei stolz auf nordische Werte, die Gleichberechtigung, die Freiheit der Rede: „Das empfindet man bei uns als nordische Errungenschaft.“ Der Stolz auf die eigene Kultur solle jedenfalls nicht mit einem „expansiven Gedanken“ verbunden werden. Das macht für sie den entscheidenden Unterschied: „Der Stolz auf die Identität ist eben nicht aggressiv, nicht kolonialistisch.“
Die Prosa des Schweigens
Bertolt Brechts Behauptung, dass die Finnen in ihrer Literatur in zwei Sprachen schwiegen, quittiert die Autorin mit einem Lachen: „Doch, die Leute reden. Aber es kann Jahre dauern, bis man auch im Privaten zu diesem sehr persönlichen Level kommt. Das braucht Zeit.“ Dennoch erzählen gerade ihre Romane davon, dass auch Ehepaare nicht direkt über Beziehungsprobleme sprechen, sondern lieber den Umweg über einen Arzt nehmen, um zu erfahren, warum es denn mit dem Ehepartner nicht klappt.
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