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Literatur als Schlüssel zur Identität

Im Interview mit ORF.at erklärt die im Moment wohl meistgelesene finnische Autorin Sofi Oksanen, warum man gerade in Finnland die aktuelle Politik Russlands mit großer Sorge betrachtet. Und warum gerade die UdSSR in ihren Romanen so einen mächtigen Schatten wirft. Eine eigene Literatur zu haben, kann zur Überlebensfrage werden, begründet Oksanen.

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ORF.at: Wie sieht eine Autorin, die sich stark mit der finnischen und estnischen Geschichte beschäftigt, den aktuellen Konflikt zwischen Europa und Russland? Immerhin hat ja Finnland im Prozess seiner Unabhängigkeit eine ganz eigene Geschichte mit Russland. Und in Ihren Romanen geht es oft um das Verhältnis estländischer Familien mit der damaligen UdSSR.

Sofi Oksanen: Für mich ist das, was in der Ukraine passiert, ein Krieg, kein „Konflikt“. Ich denke, Russland unterminiert ganz einfach den Umstand, dass die Ukraine ein unabhängiger Staat ist mit eigenen Rechten. Und es ist noch nicht allzu lange her, dass die Welt zweifelte, dass Länder wie Estland als unabhängige Staaten überleben könnten. Sowohl die Baltischen Staaten als auch Finnland waren lange Teil des russischen Reiches. All jene, die fern von diesen Ländern wohnten, nahmen gar nicht wahr, dass hier unterschiedliche Kulturen unter dem Dach eines großen Reiches wohnten. Und das erfährt im Moment die Ukraine am eigenen Leib. Für Russland ist die Ukraine ein kleines Russland. Aber die Ukraine ist ein Land mit eigener Sprache und eigener Identität. Und ganz augenscheinlich ist ja die Ukraine ein eigener Staat. Das ist ein Gefühl, das die Finnen und die Esten auch schon am eigenen Leib erfahren haben.

Sophie Oksanen

Reuters/Natalie Behring

Sieht in der aktuellen Ukraine-Debatte Parallelen zur schwierigen Unabhängigkeit des Baltikums: Sofi Oksanen

Es ist wichtig, dass Nationen und Völker außerhalb ihres Landes bekannt sind. Würde niemand wissen, dass die finnougrischen Sprachen eine eigene Sprache darstellen, würde man denken, das waren alles Russen unter dem Dach des russischen Reiches. Und die Menschen, die man heute im russischen Fernsehen als betroffene russische Bürger sieht, die Angst um ihre lokale Identität haben – dieselben Leute waren in den 1990er Jahren betroffene Russen, die sich vor einem unabhängigen Estland gefürchtet haben. Ich würde diese Menschen als „Darsteller“ in diesem Konflikt, also bezahlte Darsteller, bezeichnen. Irgendwie wiederholt sich Geschichte, kommt mir vor.

ORF.at: Wie sehr formt die Literatur die Identität eines Volkes? Und wie sehr funktioniert Literatur als Vermittler von Identität über die Grenzen eines Landes hinaus?

Oksanen: Ich denke, die Literatur hat da eine zentrale Rolle. Wenn man seine eigene Sprache nicht pflegen kann, wird man immer nur ein Bürger zweiter Ordnung sein. Man muss auch eines bedenken: Als Finnland oder Estland unabhängig wurden, hatte man in beiden Ländern erst 50 Jahre davor die eigene Literatur entdeckt. Diese Literaturen sind also sehr jung. Und man verschränkte diese Entdeckung mit einem starken Bildungsgedanken.

ORF.at: Der Begriff „Finnlandisierung“, also das Sich-Anpassen oder Neutral-Verhalten eines kleinen Landes gegenüber einem großen, macht dieser Tage wieder die Runde. Wie sehen Sie diesen Begriff im Kontext des finnischen Unabhängigkeitsstrebens.

Oksanen: Ja, es scheint so, als würde man in diesen Tagen gerade der Ukraine wieder raten, doch auf das Modell der Finnlandisierung zurückzugreifen. Aber was heißt das letztlich? Es heißt doch am Ende, immer jemand anderen mit im eigenen Land drinnen zu haben. Und das kann man wohl der Ukraine im Moment überhaupt nicht raten. Die Jahre der Finnlandisierung bedeuteten eben auch, dass man Schwierigkeiten hatte, eigene Bücher zu veröffentlichen, und man bekam auch nichts von spannender, kritischer russischer Literatur mit. Auf alles holte man die Zustimmung von Moskau ein. Und irgendwie mussten wir auch unsere eigene Sprache zum großen Nachbarn finden. Und wir sind aus diesem Grund sehr sensibel zu all dem, was an den Grenzen Russlands stattfindet.

Sophie Oksanen

APA/EPA/Balazs Mohai

„Wenn man stolz auf sein Land ist, muss das keine ‚hidden agenda‘ haben“

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ORF.at: Russland spielt ja in all Ihren Romanen eine zentrale Rolle. Und mehr noch schauen Sie auf die Geschichte Estlands. Können Sie uns dazu etwas erzählen?

Oksanen: In Finnland liest man gerne historische Romane. Das hat viel mit dem Entstehen der finnischen Literatur zu tun – und damals lag auch in unserem Gebiet die Frauenfrage deutlicher im Raum, weswegen so viele große Romane in Finnland – und auch Estland übrigens – von Frauen stammen. Und wenn Sie einen historischen Roman zu Finnland oder Estland schreiben, dann kommen Sie an Russland nie vorbei. Es wäre seltsam, ein Buch über den Winterkrieg zu haben, in dem nichts über die UdSSR gesagt wird. Wenn wir über die Territorien nachdenken, die wir verloren haben, wie Karelien, dann sprechen wir nicht nur von einer halben Million Finnen, die von Karelien nach Finnland gekommen sind, sondern wir sprechen von einem Gebiet, das unsere Literatur stark prägt. Es geht um dieses verlorene Land, das aber eben immer noch in der Literatur existiert.

ORF.at: Müssen wir stärker in Entwicklungen im 19. Jahrhundert schauen, um Konflikte der Gegenwart zu verstehen?

Oksanen: Es gibt etwas, das wir für sehr altmodisch hielten, und das ist die nationale Identität. Überall in Europa gibt es Sprachgruppen, die sich mehr Freiheit wünschen. Aber gleichzeitig steht die Problematik des Aufstiegs der Rechten. Aber das Wort „national“ muss nicht immer heißen, dass es eine „hidden agenda“ gibt. Und kleine Sprachen überleben nun mal nicht ohne Liebe zur eigenen Sprache und Kultur. In Deutschland ist man sehr besorgt über alles, was mit dem Begriff „national“ zusammenhängt, und das verstehe ich natürlich. Aber für kleine Kulturen ist die Liebe zum Eigenen ja eine Überlebensfrage.

ORF.at: Kann Europa von diesem nordischen Stolz auf die eigene Kultur lernen? Also, dass es einen unverbrauchten Stolz auf die eigene Kultur gibt. So wie die Dänen und Finnen stolz auf ihr nationales Design sind, die Schweden etwa auf ihre Popmusik?

Oksanen (lacht): Nun, es ist Teil der finnischen Bescheidenheit, dass wir nie auf die Idee kämen, uns als Modell für irgendwas und irgendjemanden zu empfehlen. Aber natürlich gibt es einen Stolz auf nordische Werte, etwa Gleichberechtigung, die Freiheit der Rede, das empfindet man bei uns als nordische Errungenschaft. Und für uns ist der Stolz auf die eigene Kultur nicht mit einem expansiven Gedanken verbunden. Das macht vielleicht einen entscheidenden Unterschied aus. Der Stolz auf die Identität ist eben nicht aggressiv, nicht kolonialistisch.

ORF.at: Können Sie Ihr besonderes Verhältnis zu Estland beschreiben?

Oksanen: Ich erinnere mich an eine Zeit, als man in Estland, da man noch unter sowjetischer Herrschaft lebte, Bücher in der eigenen Sprache nur unter besonderen Mühen erwerben konnte. Man musste eigentlich ein eigenes soziales Netz haben, um an Bücher zu gelangen. Und jede Familie in Estland hatte ihr eigenes Bücherregal mit der Literatur in Estnisch. Und aus dieser Zeit kommt mein Interesse an Literatur und die Erkenntnis bei mir, dass Literatur etwas besonders Kostbares sein kann, wenn man zu ihr nur unter derart schwierigen Bedingungen gelangen kann.

ORF.at: Wenn man Ihre Romane liest, sind Familienzusammenhänge der Schlüssel zu den großen politischen Zusammenhängen. Machen erst Familiengeschichten die große Geschichte mit all ihren Widersprüchen greifbar?

Oksanen: Die Familiengeschichte im Zentrum gibt mir die Möglichkeit, Effekte großer politischer Vorgänge sehr konkret zu machen. Wenn man etwa Verluste plastisch machen will. Eine Besatzung misst gern in großen Opferzahlen, doch auf der Ebene der Familie wird es erst konkret. Es sind Familien, die durch solche Ereignisse auseinandergerissen wurden. Und die Familie ist die grundsätzlichste gesellschaftliche Einheit – und Okkupation wollte ja immer Familien zerreißen.

ORF.at: Wie gehen Sie mit dem Umstand um, dass die größte Zahl Ihrer Leserinnen und Leser Übersetzungen lesen. Wie werden Ihre Romane in den unterschiedlichen Ländern wahrgenommen?

Oksanen: Es gibt natürlich immer Unterschiede. Aber ich habe viele Leser getroffen, die aus ganz fernen Regionen stammen, die fern sind von der finnischen oder estnischen Geschichte, die aber eine harte Okkupationserfahrung haben. Und in diesen Ländern erschließen sich meine Romane sehr direkt. In Spanien etwa. Oder in Portugal. Oder eben in Osteuropa. Das habe ich durch die Auseinandersetzungen mit meinen Romanen in Übersetzung gelernt.

ORF.at: Kommen wir noch einmal auf den Eindruck zu sprechen, den Finnen gegenüber den Besuchern aus anderen Ländern hinterlassen. Ausländer, die in Finnland arbeiten, etwa an internationalen Instituten, schwärmen von der finnischen Verlässlichkeit, könnten aber wenig Privates über ihr direktes Arbeitsgegenüber erzählen, einfach, weil man es nicht erfährt. Wie erklären Sie das? Und wie gehen Sie als Autorin mit dieser, sagen wir mal: finnischen Diskretheit um?

Oksanen: Finnen machen keinen Smalltalk. Ich glaube, wir behalten gern viel für uns selbst. Das mag damit zusammenhängen, dass wir gewohnt sind, viel Raum um uns zu haben. Fünf Millionen Menschen leben in so einem riesigen Land, da hat man für sich viel Platz. Und wir sind sehr diskret, was unser Heim, was unsere Gespräche anlangt. Aber ich habe nie in einem anderen Land gearbeitet, um das im Alltag vergleichen zu können. Finnen sind sehr vorsichtig mit Fremden, weil man sich denkt, wissen wir genug über die Kultur, aus der jemand kommt? Also ist man behutsam mit dem Kontakt. Und ein Fremder bleibt in Finnland wohl sehr lange ein Fremder in Finnland.

ORF.at: Aber wie sieht es mit dem privaten Umgang der Finnen miteinander aus. Hat Brecht also recht, wenn er sinngemäß sagt, die finnische Literatur ist rasch behandelt: Man redet dort so wenig?

Oksanen (lacht): Doch, die Leute reden. Aber es kann Jahre dauern, bis man auch im Privaten zu diesem sehr persönlichen Level kommt. Das braucht Zeit.