Die Verkehrsrowdys der Jahrhundertwende
Der französische Schriftsteller und leidenschaftliche Radfahrer Alfred Jarry war Ende des 19. Jahrhunderts stolz darauf, gar zwei Räder zu besitzen. Radfahren wurde gerade massentauglich - hatte aber noch nichts von seiner subversiven Kraft eingebüßt. Radfahrer wollten teils bewusst auf den von Pferdekutschen, handgezogenen Leiterwagen und Fußgängern bevölkerten Straßen provozieren.
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Zuvor war es der Oberschicht vorbehalten, die damals in den Kinderschuhen steckenden, sehr teuren Velos - sei es in Form von Hochrädern, sei es in Form bereits fahrradähnlicher Gefährte - zu erwerben. Das Fahrradfahren in dieser Zeit galt als gefährlich und Dandys und ähnlich suspekten Erneuerern vorbehalten.

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Ein Fahrradfahrer um die Jahrhundertwende: Beim Fotografieren sich bewegender Objekte hatte man noch Probleme mit der Belichtungszeit, weshalb sich der Fahrer am Baum anlehnt
Jarry stolz auf Rennsiege
Wenig später sollte sich das ändern. Zum ersten Mal lag die Fortbewegung mit einem Fahrrad in den finanziellen Möglichkeiten des Bürgertums, wie Alastair Brotchie in „Alfred Jarry. Ein pataphysisches Leben“ schreibt. Das Fahrrad wirkte sich dadurch dramatisch auf die Mobilität- und Fortbewegungskultur der weniger Betuchten aus. Sein erstes Fahrrad kaufte der 1873 geborene Jarry im Oktober 1888. Kurz darauf trat er laut der Biografie in einen Fahrradclub, dem „Velocipede Club“ im französischen Lavellois, ein und fuhr mit großem Erfolg und zur eigenen Zufriedenheit auch Rennen über teils lange Strecken.
Auch Fußgänger schlugen zu
Die Gefahren des Fahrradfahrens, vor denen Modernisierungsgegner warnten, waren allerdings zumindest teilweise real: So kam es durchaus vor, dass Fahrradfahrer von Hunden, die den Anblick von Fahrrädern ganz und gar nicht gewohnt waren, angefallen wurden. Deshalb führte Jarry wie auch andere Radfahrer zur Abwehr immer eine Reitgerte mit sich.
Buchhinweis
Alastair Brotchie: Alfred Jarry. Ein pataphysisches Leben. Piet Meyer Verlag, 552 Seiten, 46 Euro.
Außerdem war die Gerte laut Brotchie äußerst nützlich gegen erzürnte Fußgänger, die wild entschlossen waren, den Fahrer vom Sattel zu stürzen, was damals durchaus üblich war. Auch das Kopfsteinpflaster bzw. die großteils unbefestigten Straßen sorgten dafür, dass man sich konzentrieren musste, um nicht zu stürzen.
Die Menschmaschine nach der Niederlage
Hochrad- bzw. Fahrradfahren galt allerdings immer noch als subversiv, wie der Kulturwissenschaftler Wolfgang Schivelbusch in seinem Buch „Die Kultur der Niederlage“ schreibt. Vor allem Frankreich tat sich mit der neuen Fortbewegungsart hervor. Schivelbusch sieht das in Zusammenhang mit der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Die französiche Fahrradmode, die „manie velo“, lässt sich laut Schivelbusch als „kollektiv ausgelebter Drang zur Erhebung aus der Schwerkraft der Realität“ nach der Niederlage gegen den „Erzfeind“ Deutschland begreifen.
Buchhinweis
Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage. Alexander Fest Verlag, 512 Seiten, 36,50 Euro.
Es ist also eine Flucht des sich selbst als kulturell höherstehend sehenden Frankreichs aus dem Trauma der Niederlage gegen die kulturell als „Barbaren“ gesehenen Deutschen - der (französische) Fahrradfahrer also als Menschmaschine, die durch die gleichförmige Bewegung die Tränen über den verlorenen Krieg quasi ausschwitzt. Hierbei wichtig wurden auch Fahrradrennen gegen andere Nationen. Es ist kein Zufall, dass die Tour de France 1903 erstmals ausgetragen wurde. Hier sollte durch Siege die kriegerische Niederlage getilgt werden.
Peter Bauer, ORF.at
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