Provokationen, Skandale und die Kunst
Mit „Merdre“ (etwa: „Schreiße“), dem ersten Wort seines auch heute noch aufgeführten Bühnenstücks „Ubu Roi“ („König Ubu“), gab der Franzose Alfred Jarry 1896 den Urschrei der Moderne von sich und erfand damit gleich das Absurde Theater. Jarry starb bereits 1907 mit 34 Jahren an tuberkulöser Meningitis.
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Selbst in den Kreisen der Modernisten in Paris war Jarry Avantgarde und erntete für seine Werke neben Anerkennung von Schriftstellern und Künstlern wie etwa Guillaume Apollinaire und Pablo Picasso auch Kopfschütteln selbst wohlmeinender Kritiker. Die Auswirkungen seines Werkes und dessen volle Tragweite wurden erst Jahrzehnte später erfasst. Dem Establishment ging das Aufbegehren des als Exzentriker abgestempelten Jarry gegen die Konventionen sowieso zu weit.

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Paris Ende des 19. Jahrhunderts: Eine vibrierende Metropole mit regem Kulturleben
Späte Anerkennung als „Urvater der Moderne“
Erst Dadaisten und später die Surrealisten entdeckten in Jarry ihren gefeierten Vorläufer und einen der Urväter der Moderne. Nach dem Zweiten Weltkrieg „adoptierte“ die literarische Gruppierung Oulipo in Frankreich, darunter etwa Georges Perec, Raymond Queneau und Boris Vian, Jarry.
Den Weg des Künstlers und seines umfangreichen Werks zeichnet die Biografie von Alastair Brotchie „Alfred Jarry: Ein pataphysisches Leben“ nach. Voll von Anekdoten, denen Brotchie seine biografischen Recherchen gegenüberstellt, zeichnet das mit zahlreichen Bildern ausgestattete Buch nicht nur Jarrys kurzes Leben, sondern auch die Frühzeit der Moderne nach.

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Pere Ubu als Holzschnitt von Alfred Jarry
„Ich werde mich unsäglich bereichern“
Am Beginn des später legendären Rufes von Jarry stand „König Ubu“. Es sollte auch Jarrys bekanntestes Werk bleiben. Das Stück wurde erstmals 1896 auf die Bühne gebracht. Am Theatre de l’Oeuvre in Paris löste bereits der ersten Satz von Pere Ubu - „Ich werde mich unsäglich bereichern, dann werde ich alle umbringen und davonlaufen“ - einen handfesten Theaterskandal aus. Pere Ubu, der wild gewordene Spießer und blutige Kasperl, betrat mit diesem „Urkrach“ an rotziger Frechheit, unverschleiertem Machtkonzept und impliziter Gesellschaftskritik, Bürgermonster und Bürgerschreck gleichzeitig verkörpernd die Weltenbühne.
Er verkörpert eine widersprüchlich tragische und monströse Mischung aus Bestialität, überbordendem Patriotismus, zügelloser Geilheit und Fresssucht und doch angewandter Prüderie. Minutenlange Tumulte erzwangen gleich zu Beginn eine Unterbrechung der Uraufführung des Stückes. In der bürgerlichen Presse fielen die Kritiken für Jarry vernichtend aus.
Ein Lehrer als etwas anderes Vorbild
Begonnen hat Jarrys Reise in das Unbekannte, aus dem die Moderne werden sollte, auf dem Lycee in Rennes. Dort liegen auch die Wurzeln seiner bekanntesten Figur Pere Ubu. Sie tragen starke Züge des von den Schülern gehänselten, offenbar inkompetenten Lehrers Felix-Frederic Hebert.
An dem Gymnasium war es bereits Tradition gewesen, kurze Geschichten mit dem verhassten Hebert in der Hauptrolle zu schreiben und weiterzureichen. Doch Jarry machte im Laufe der Zeit noch etwas ganz anderes daraus. Schülerscherze, kindliche Streiche, gehobenes Blödeln und intellektueller Anspruch mischten sich mit gesellschaftlicher Kritik an der Selbstherrlichkeit und den autoritär-hierarchischen Strukturen des vorherrschenden Patriarchats. Eine völlig neuartige explosive Mischung entstand daraus. Auf die Haltung kommt es an, so das Credo des Künstlers Jarry. Jarry selbst nahm laut Brotchie zeitweise aus der Lust an der Provokation die Rolle und die Standpunkte Ubus ein.
Die Wissenschaft der imaginären Lösungen
Im Laufe der Jahre nahm Jarry auch die Wissenschaftsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts aufs Korn und baute sein eigenes wissenschaftlich-parodistisches System der Pataphysik. Die Pataphysik wurde als Wissenschaft der imaginären Lösungen definiert. Jarry verfeinerte „seine“ - denn es gibt nicht nur eine - Pataphysik ständig, änderte sie sogleich wieder, um sie dann später erneut in anderer Form mit viel Witz und Wortspielen wieder aufzugreifen oder zu verdammen. „Alles fließt“ quasi, nichts ist unveränderlich - keine Institution, kein Glaube sind von Bestand.
„Ich bin viele“ statt „Ich ist ein anderer“
Jarry stellte damit das - nicht nur permanent schöpferische und sich selbst neu erfindende - Subjekt, dessen Befindlichkeiten und Ansichten unerbittlich als einzige Möglichkeit in den Mittelpunkt: Alle anderen Möglichkeiten eines universellen Leitbildes wie etwa die systemischen Werte und damit gesellschaftlichen Zusammenhalt suggerierenden Erkenntnisinstrumente Theologie, Wissenschaft und Philosophie wurden als autoritär, einschränkend und daher dem Menschen unangemessen abgelehnt.
Jarry verwendete die Pataphysik mit ihren künstlerischen Mitteln für die Kritik an dem Geist und den herrschenden Systemen seiner Zeit und weit darüber hinaus. Die Pataphysik wird noch immer von bildenden Künstlern, Schriftstellern und Philosophen aufgenommen und für die eigene Person, das eigene Werk verwendet - ein Spiel mit unendlichen Möglichkeiten der Spiegelung. „Ich bin viele“ statt des „Ich ist ein anderer“ Arthur Rimbauds.
Im Steinbruch der Situationisten
Fast möchte man bei Jarry von einer Vorwegnahme des künstlerischen Detournement sprechen - allerdings mit dem eigenen Werk und nicht in der Verfremdung künstlerischer Produktionen anderer, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg die Lettristische Internationale und in der Folge die Situationisten rund um Guy Debord ebenfalls in Paris betrieben. Jarrys vorweggenommener Steinbruch quasi.
Es gibt kein richtiges Leben im falschen
Der Künstler und sein Ausdruck sind Dreh- und Angelpunkt des Werkes. Der als Exzentriker geltende Jarry kann selbst in seiner Mischung aus Inszenierung und Authentizität als Gesamtkunstwerk gesehen werden. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, wie es der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno in seinen „Minima Moralia“ in den 1940er Jahren formulierte, hat bereits für Jarry Gültigkeit. Jarry selbst versuchte immer auf der richtigen Seite des Lebens zu stehen - egal, was es kostete.
Und Jarry kostete es viel. Er war finanziell oft auf die Hilfe von wohlhabenderen Freunden und deren Jobvermittlung angewiesen. So schrieb er neben Essays etwa Kritiken über Sachbücher - von Fischerei über Literatur bis zu Golf für Anfänger. Eine wirkliche Linie lässt sich aufgrund der zahlreichen Interessen Jarrys hier nicht ziehen.
Radfahren als große Leidenschaft
Jarry liebte laut seinem Biografen seit seiner Kindheit auch sportliche Tätigkeiten. Von klein auf ging er angeln und war auch sonst ein begeisterter „Bewegungssportler“. Seine größte Leidenschaft war allerdings das Radfahren. Stolz war er auch darauf, dass er zeitweise sogar zwei Räder besaß.
Buchhinweis
Alastair Brotchie: Alfred Jarry. Ein pataphysisches Leben. Piet Meyer Verlag, 552 Seiten, 46 Euro.
Nach seinem Tod wurde sein Nachlass, etwa Manuskripte seiner Romane und Theaterstücke wie „Messalina“ und „Dr. Faustroll“, unter seinen Künstlerfreunden verkauft. Pablo Picasso kaufte auch die Pistole des Verstorbenen. Jarrys Werk wurde dadurch zerstreut - lange blieb daher selbst in der Hochburg der Moderne vieles unveröffentlicht.
Peter Bauer, ORF.at
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