Vier Szenarien für Schottland
Die Schotten stimmen am Donnerstag über die Unabhängigkeit von Großbritannien ab. Zunächst hatte es so ausgehen, als ob die Abspaltungsbefürworter keine Chance hätten - in Umfragen stand es zwei Drittel zu einem Drittel gegen die Unabhängigkeit. In den vergangenen Monaten wendete sich das Blatt aber, so dass nun auch ein Ja zur Abspaltung möglich ist. Daraus ergeben sich vier Szenarien:
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Klares Nein zur Unabhängigkeit: In diesem Fall wäre die Position des schottischen Ministerpräsidenten Alexander Salmond und seiner Scottish National Party (SNP), die das Referendum betrieben haben, geschwächt. Ein Rücktritt Salmonds stünde im Raum. Sein Projekt eines unabhängigen Schottland wäre wohl langfristig vom Tisch. Salmond hat sich verpflichtet, das Abstimmungsergebnis anzuerkennen.
London hätte bei einem klaren Nein wenig Druck, auf Forderungen Edinburghs einzugehen und weitere Dezentralisierungswünsche zu erfüllen. Dennoch wären ein paar Zugeständnisse an die Schotten in Sachen Selbstverwaltung zu erwarten, um diese nicht ganz leer ausgehen zu lassen. Die Position des britischen Premierministers David Cameron an der Regierungsspitze und der Parteispitze der Konservativen vor der im Mai 2015 erwarteten Unterhauswahl wäre gestärkt.
Knappes Nein: Verfehlen die Unabhängigkeitsbefürworter ihr Ziel nur knapp, ist laut der Politologin Melanie Sully durchaus mit Straßenprotesten der unterlegenen Unabhängigkeitsbefürworter zu rechnen. Deren Kritik an der Fairness der Antiunabhängigkeitskampagne Londons ist immer lauter geworden, und deren Misstrauen gegenüber der Politelite von Westminister ist größer denn je.
Zu Beginn der Kampagne wäre erwartet worden, dass die britische Regierung bei einem knappen Nein eine Kommission einsetzt, die einen Plan für eine größere Selbstbestimmung Schottlands ausarbeitet, um Wünschen - wenn schon nicht der Mehrheit, aber doch der breiteren Bevölkerung in Schottland - entgegenzukommen. Dazu gehören Bereiche wie Fiskalhoheit und Steuerwesen, aber auch ein größerer Anteil für Schottland an den Einnahmen aus dem Nordsee-Öl. Eine Regierungskommission dürfte sich in diesem Fall nicht nur mit Schottland, sondern auch mit Nordirland und Wales befassen und auch diesen beiden Landesteilen mehr Eigenkompetenzen bringen.
Ein knappes Nein könnte sich jedoch angesichts der zugespitzten Lage als Pyrrhussieg für London erweisen. Es könnte fast nicht genug Zugeständnisse machen, um die unterlegenen, aber mit einem starken Unterstützungssignal ausgestatteten Befürworter der Unabhängigkeit zufriedenzustellen, meint Sully.
Klares Ja: Ein Ja zur Unabhängigkeit würde einen schwierigen und womöglich langwierigen Prozess nach sich ziehen. In Verhandlungen mit London müsste das Ausscheiden Schottlands aus dem Vereinigten Königreich gemanagt werden. Eine Vielzahl von Fragen würde aufgeworfen: Sind Schottland und der Rest des bisherigen Vereinigten Königreichs gleichberechtigte Rechtsnachfolger Großbritanniens oder nur Rest-UK, wie die meisten Völkerrechtler meinen? Wird Schottland einen Anteil an den britischen Staatsschulden übernehmen? Welche Währung wird das unabhängige Schottland haben? Wie kann Schottland in der EU bleiben bzw. neues Mitglied werden? Zu solchen allgemeinen Weichenstellungen kämen noch unzählige Detailfragen vieler Lebensbereiche, die geklärt werden müssten.
Salmonds Regierung müsste in den Verhandlungen mit London rasche und günstige Lösungen vorweisen, meint Politologin Sully. Schafft sie das nicht vor dem Frühjahr 2016, könnte die regionale Wahl in Schottland im Mai jenes Jahres leicht eine Abwahl der SNP und eine Mehrheit der Unabhängigkeitsgegner bringen. Sind diese an der Macht, könnten sie das Projekt Unabhängigkeit auf Eis legen oder ein neues Unabhängigkeitsreferendum anstrengen - das nun möglicherweise mit einer Mehrheit gegen die Unabhängigkeit ausgeht. Salmond will den Austritt aus Großbritannien daher spätestens zu Jahresanfang 2016 unter Dach und Fach haben.
London wiederum dürfte aus politischem Kalkül auf die Bremse steigen und versuchen, Edinburgh zu Kompromissen und politischen Opfern zu zwingen. Denn schon für Mai 2015 wird die nächste britische Unterhauswahl erwartet, und Cameron wäre ohnedies schon mit der Punze des „Premiers, der Schottland verloren hat“, belastet. Einen weiteren Ausverkauf britischer Interessen könnte er sich nicht leisten.
Nach der Unterhauswahl könnte Salmond aber wieder Oberwasser bekommen: Das noch nicht unabhängige Schottland nimmt an der Wahl teil und wird noch mit Abgeordneten im britischen Parlament vertreten sein. Ist die neue britische Regierung auf die SNP-Mandatare und auch andere schottische Abgeordnete als Mehrheitsbeschaffer angewiesen, könnten diese im Gegenzug für ihre Stimmen auf Wohlwollen Londons und Fortschritte bei den Unabhängigkeitsverhandlungen pochen. Auf der anderen Seite hätten die Labour-Partei und die Konservativen laut Politologin Sully in diesem Fall kein Interesse, rasch den letzten Schritt zu machen: Denn wäre die schottische Unabhängigkeit erreicht, würden die schottischen Parlamentarier das Unterhaus verlassen - und die Mehrheitsbeschaffer wären weg.
Knappes Ja: Auch ein knappes Ja wäre ein Ja - London müsste auch das anerkennen. Die gleichen schwierigen Prozesse wie bei einem deutlichen Pro-Votum würden beginnen, um die Schaffung eines unabhängigen schottischen Staates herbeizuführen. Die Gespaltenheit der schottischen Bürger wäre für die schottische Regierung allerdings eine weitere Herausforderung. Sie müsste vor der Schottland-Wahl im Mai 2016 umso schneller mit positiven Ergebnissen aufwarten.
Bei einem Ja - ob klar oder knapp - hängt laut Sully inzwischen auch der Bestand der Monarchie in Schottland in der Luft. Die britische Königin Elizabeth II. hatte zunächst zum Referendum geschwiegen. Beim Verlassen eines Gottesdiensts nahe ihrer schottischen Sommerresidenz Balmoral soll sie am Sonntag zu Umstehenden gesagt haben, sie hoffe, dass die Menschen „sehr gut über die Zukunft nachdenken“. Das haben die Unabhängigkeitsbefürworter negativ aufgefasst und könnte Salmond, der die Queen als Staatsoberhaupt behalten wollte, womöglich umstimmen.