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„Einfach nicht genug Fakten“

Im Prozess gegen Oscar Pistorius hat Richterin Thokozile Masipa den Angeklagten vom Hauptvorwurf des Mordes freigesprochen. Die Anklage habe nicht zweifelsfrei beweisen können, dass der 27-jährige ehemalige Paralympics-Star seine Freundin Reeva Steenkamp mit Absicht getötet habe, sagte Masipa am Donnerstag bei der Urteilsverkündung im südafrikanischen Pretoria. Das Urteil folgt am Freitag.

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Auch eine vorsätzliche Tötung eines vermuteten Einbrechers - so Pistorius’ Version des Tathergangs - verwarf die Richterin. Pistorius habe offenkundig die Möglichkeit nicht in Betracht gezogen, dass er „die Person hinter der Tür töten könnte“. Pistorius tötete das 29-jährige Model am Valentinstag 2013 mit vier Schüssen, die er durch eine geschlossene Badezimmertür feuerte. Nach stundenlangen Ausführungen kam Masipa zum Schluss, dass fahrlässige Tötung ihr als „gebotenes Urteil“ erschien, ohne jedoch formell das Verdikt auszusprechen.

Angeklagter als „schlechter Zeuge“

Deutlich ließ die Richterin erkennen, dass sie bei dem Freispruch vom Vorwurf des Mordes dem Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ folgte: Die Anklage habe „einfach nicht genug Fakten“ für den Vorwurf präsentieren können, dass Pistorius seine Freundin in einem Wutanfall nach einem Streit getötet habe. Aussagen über Schreie in der Tatnacht seien etwa nicht hundertprozentig hieb- und stichfest gewesen. Pistorius’ Angaben waren aus Sicht der Richterin aber mindestens ebenso unglaubwürdig.

Richterin Thokozile Masipa

APA/EPA/Kim Ludbrook

Richterin Thokozile Masipa

Masipa bezeichnete Pistorius als „schlechten Zeugen“: Oftmals habe er „unglaubwürdig“ gewirkt und sich in Widersprüche verwickelt. Bei seinen Aussagen sei es ihm wohl darum gegangen, dem Gericht keine Argumente gegen ihn zu geben - und nicht darum, möglichst wahrheitsgetreu auszusagen. Auch wischte Masipa das Argument vom Tisch, dass sich der Angeklagte ohnehin in einem schuldbefreienden Ausnahmezustand befunden habe. Detailliert den Tathergang darlegend, befand sie, dass er koordiniert und bewusst gehandelt habe.

Pistorius zeigte Nerven

Überhaupt ließ sich Masipa von den Erwartungen der Anwesenden im Gerichtssaal und der Medien nicht unter Druck setzen. In aller Ruhe ging sie jeden einzelnen der vier Anklagepunkte - neben dem Tötungsvorwurf auch noch mehrere Verstöße gegen das Waffenrecht - durch und erörterte die Argumente von Anklage und Verteidigung sowie ihre Sicht der im Verfahren erbrachten Beweise. Pistorius zeigte dabei merkbar Nerven. Anfangs ohne äußerlich erkennbare Regung im Gerichtssaal sitzend, brach er später in Weinkrämpfe aus.

Die im Gerichtssaal anwesenden Eltern Steenkamps, Barry und June, schauten während der stundenlangen Ausführungen der Richterin die meiste Zeit zu Pistorius hinüber. June Steenkamp hatte einen Strauß roter Rosen vor sich. Auch die Familie von Pistorius war anwesend: Vater Henke, Schwester Aimee, Bruder Carl und Onkel Arnold. Carl Pistorius sitzt derzeit im Rollstuhl - er hatte sich vor einigen Wochen bei einem Autounfall schwer verletzt. Zahlreiche Journalisten versammelten sich vor und im Gericht.

Richterin: Pistorius handelte fahrlässig

In Südafrika ist es möglich und zum Teil auch üblich, dass ein Richter das Urteil erst am Ende seiner Ausführungen bekanntgibt. Masipa ließ sich über Stunden hinweg während ihrer detaillierten Ausführungen nie anmerken, zu welcher Entscheidung sie tendiert. Die Anspannung im Gerichtssaal stieg während der Ausführungen der Richterin. Dass Pistorius tatsächlich der fahrlässigen Tötung für schuldig befunden wird, schien am Donnerstagnachmittag die wahrscheinlichste Variante, aber nicht die einzig mögliche.

Oscar Pistorius

AP/Kim Ludbrook

Pistorius bei der Urteilsverkündung am Donnerstag

Hinweise darauf gab es aber: Die Richterin warf dem Angeklagten Fahrlässigkeit vor. Ihrer Meinung nach habe Pistorius „überstürzt gehandelt und übermäßig Gewalt angewendet“. Klar ist für Masipa, dass Pistorius vorhersehen musste, dass seine Schüsse eine Person tödlich treffen könnten. Er habe genug Zeit gehabt, eine vernünftige Entscheidung zu treffen, bevor er schoss, so die Richterin. Anders wäre der Fall etwa gelagert gewesen, wenn er aufgewacht wäre und sich ein Eindringling über ihn gebeugt hätte, erläutert die Richterin.

Prozess auf Freitag vertagt

Der Unterschied zwischen den Rechtsbegriffen des „culpable homicide“, also der vorwerfbaren Tötung eines Menschen, und „murder“ ist nicht dasselbe wie zwischen „fahrlässiger Tötung“ und „Mord“ gemäß österreichischem Strafrecht. Viele Tatbestände, die hier Mord wären, sind „homicide“, ohne dass die Tat deshalb milder bestraft würde. Der Prozess wird Freitagvormittag fortgesetzt - mit einem Urteil ist dann zu rechnen. Das Strafausmaß wird ohnehin separat erst zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.

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