Komplizierte Fronten in Libyen
Libyen zerfällt in einen Machtkampf - vor allem zwischen islamistischen Milizen und nationalistischen Kräften. Am Wochenende eroberte das islamistische Bündnis Fadschr Libya nach tagelangen Kämpfen den Flughafen in Tripolis. In der Hauptstadt wurden Häuser angezündet und deren Bewohner vertrieben. Im Osten des Landes zelebrieren Dschihadisten öffentliche Tötungen.
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Das Parlament hat seinen Tagungsort aus Tripolis in das sicherere Tobruk im Osten des Landes verlagert. Das von den Islamisten dominierte alte Parlament, das eigentlich im Juni abgewählt worden war, rief am Montag in Tripolis den von den Islamisten unterstützten Omar al-Hasi zum neuen Regierungschef aus. Seite an Seite waren die verfeindeten Kräfte am Sturz von Machthaber Muammar al-Gaddafi beteiligt gewesen, nun lieferten sie sich einen Stellvertreterkrieg, sind sich Beobachter einig.
Chaos in der Regierung
Seit Monaten herrscht im Land ein Machtvakuum: Übergangspremier Ali Seidan wurde im März durch ein Misstrauensvotum gestürzt, auf ihn folgte Abdullah al-Thinni, der seinerseits wenig später das Amt niederlegte. Ahmed Maitieg wurde daraufhin in der chaotisch verlaufenen Wahl, die allerdings vom obersten Gericht in Libyen für verfassungswidrig erklärt wurde, ins Amt gehoben. Thinni übernahm interimistisch wieder das Amt.
Das Übergangsparlament, der Allgemeine Nationalkongress, dessen Mandat eigentlich schon im Februar auslief, wird von gemäßigten Islamisten dominiert, dementsprechend wird es von ähnlich orientierten Milizen eher unterstützt, von antiislamistischen Gruppen bekämpft.
Wahl mit unklarem Ausgang
Um Autorität und vor allem Legitimität zurückzuerobern, wurden Neuwahlen ausgeschrieben. Die Wahl für die neue Abgeordnetenkammer fand unter geringer Beteiligung Ende Juni statt. Rund einen Monat später gab es auch Ergebnisse, allerdings wurde sie als Personen- statt als Listenwahl durchgeführt. Wie nun die Mehrheiten aussehen, ist vorerst unklar, offenbar sind die Antiislamisten aber in der Überzahl.
Libyens Parlament hat eigentlich 200 Sitze. Wegen der Unsicherheit war bei der Abstimmung im Juni in einigen Wahlbezirken - beispielsweise in Derna - jedoch nicht gewählt worden. Somit haben laut Zeitung „Al-Wasat“ bisher nur 188 Abgeordnete ein Mandat erhalten. Gleichzeitig würden Milizen und Terrorgruppen dafür sorgen, dass das Chaos weiter verschlimmert wird.
Rund 150.000 Kämpfer
In Libyen soll es derzeit 150.000 bis 160.000 bewaffnete Kämpfer, schätzt Libyen-Experte Wolfgang Pusztai in einem Paper für den italienischen Thinktank ISPI. 1.700 unterschiedliche Gruppen schätzt die BBC. Sie werfen einander vor, zum alten Regime Gaddafis zu gehören. Gekämpft wird aber nicht nur um die Macht im Staat. Häufig geht es auch nur um regionale Konflikte.
General auf Privatfeldzug
Und die Zugehörigkeiten sind ähnlich fluid wie die Fronten. Selbst die libysche Armee hat alles andere als eine einheitliche Stoßrichtung. Viele regionale Milizen sind eigentlich in die Armee eingebunden. Und viele Kampfverbände haben sich mit ihren Kommandeuren „selbstständig“ gemacht. Dazu gehört auch General Chalifa Haftar, dessen nationalistisch geprägte Miliz in der sogenannten Operation Würde versucht, den verschiedenen Islamistengruppen im Land Einhalt zu gebieten.
Seine Operation Würde gegen die Islamisten nährt freilich Spekulationen, er erhalte Unterstützung aus Algerien, Saudi-Arabien und Ägypten. Der Ex-General dementiert das. Und aufgrund seiner Biografie gibt es noch weitere Gerüchte: Haftar gehörte bereits unter Langzeitmachthaber Gaddafi dem libyschen Militär an, ging dann aber in die Opposition und später ins US-Exil, wo er 20 Jahre lebte. Aus der Zeit als Oppositionsaktivist werden ihm nun Kontakte zum US-Geheimdienst CIA nachgesagt.
Gefechte mit Islamisten
Haftar konnte auch weitere Kampfverbände wie die Eliteeinheit Al-Saika unter sich vereinen und schien eine echte Herausforderung für die islamistisch geprägte Regierung zu sein. Gibt es eine antiislamistische Regierung, die sich dem Kampf gegen Extremisten verschreibt, hat Haftar gute Chancen, eine wichtige Rolle zu übernehmen, meint Pusztai.
Derzeit kämpft die Nationale Armee vor allem im Osten Libyens gegen die Ansar al-Scharia. Die Salafisten der radikalsten islamischen Gruppe wollen einen Gottesstaat errichten. Verbündet sind sie mit der Islamistenmiliz Märtyrer des 17. Februar, der Omar-al-Muchtar-Brigade und der ersten Brigade von Libyens Schutzschild. Insgesamt gebe es rund 8.000 bis 10.000 islamistische Kämpfer, schätzt Pusztai. Dazu kommt noch die Al-Kaida im Islamischen Maghreb (AQIM), die allerdings Libyen vor allem als Rückzugsgebiet verwendet und eher in den Nachbarländern aktiv ist.
Misrata-Brigaden und die Muslimbrüder
Traditionell einflussreich sind die Stämme Libyens, und auch deren Milizen mischen im Konflikt mit. Die Region um die Hafenstadt Misrata hat seit der Revolution einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Die Milizen der Stadt sind seit längerem in die heftigen Kämpfe in Tripolis verwickelt.
Schätzungen zufolge bestehen sie aus 10.000 bis 12.000 Kämpfern, andere Quellen sprechen von bis zu 40.000. Die Misrata-Brigaden werden laut Pusztai von Katar unterstützt und stehen politisch den Muslimbrüdern nahe. Vor allem die Kommandeure gelten als radikale Islamisten. Allerdings gebe es auch schon Bedenken, ob man tatsächlich ein radikalislamisch regiertes Libyen will, schreibt Pusztai.
Neue Bündnisse?
Ihnen gegenüber stehen die Al-Sintan-Brigaden aus der gleichnamigen Stadt. Sie bestehen unter anderen aus der Al-Kakaa- und der Al-Sawaig-Brigade. Sie unterstützen liberale und säkulare Politiker, Hilfe sollen sie aus den Vereinten Arabischen Emiraten erhalten. Seit dem Sturz Gaddafis wachen sie über den Flughafen von Tripolis.
Ihr Kernproblem ist ihre geringe zahlenmäßige Stärke, so Pusztai. Medienberichten zufolge verhandeln sie derzeit mit dem Warfalla-Stamm, der mit rund einer Million Mitgliedern der größte Stamm Libyens ist. Schmieden sie ein Bündnis, könnte das eine deutliche Kräfteverschiebung zu ihren Gunsten bedeuten.
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