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„Inklusion ist kein Selbstläufer“

Vor sechs Jahren hat Österreich die UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung ratifiziert und sich damit zur Inklusion im Bildungsbereich verpflichtet. Das bedeutet, dass Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam in einer Klasse unterrichtet werden. Alle sollen dabei nach ihren Bedürfnissen gefördert werden und nicht nur miteinander, sondern auch voneinander lernen.

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Die Realität sieht aber anders aus: Nach wie vor wird rund die Hälfte der Kinder und Jugendlichen mit Beeinträchtigung separat in Sonderschulen unterrichtet, die andere Hälfte in speziellen Integrationsklassen an regulären Schulen. In beiden Einrichtungen werden Kinder und Jugendliche mit Behinderung als „anders“ klassifiziert. Das Konzept der Inklusion hebt diese Trennung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung auf. Während bei der Integration Menschen mit Behinderung „dazukommen“, geht es bei der Inklusion um ein selbstverständliches und gleichberechtigtes Miteinander von Anfang an.

„Es fehlt an politischem Mut“

Die Koalition kündigte in ihrem Regierungsprogramm zwar die Weiterentwicklung inklusiver Bildung an - vielen geht das aber zu langsam. Es fehle an politischem Mut, kritisiert Germain Weber, Dekan der Fakultät für Psychologie der Universität Wien und Präsident der Lebenshilfe, Österreichs größter Interessenvertretung für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung.

Österreich gehöre bei Inklusion nicht zu den innovationsfreudigen Ländern, so Weber im Interview mit ORF.at. Auf Bundesebene sei man auf einem vorsichtigen Diskussionsweg. Auf Länderebene ist Inklusion in Kindergärten und Schulen laut Weber in der Steiermark mit 84 Prozent bereits sehr weit vorangeschritten, Niederösterreich ist mit 30 Prozent Schlusslicht.

„Wenn du dumm bist, kommst du in die Hilfsschule“

„Die größten Barrieren auf dem Weg zur Inklusion sind in den Köpfen der Menschen“, sagte Friederike Pospischil, Vizepräsidentin der Lebenshilfe Niederösterreich bei einem runden Tisch im Rahmen des Kongresses „Wege zur Inklusion“, der im Juli an der Universität Wien stattfand. In ihrer eigenen Schulzeit sei noch der Spruch „Wenn du dumm bist und nicht lernst, dann kommst du in die Hilfsschule“ üblich gewesen.

Inklusion in Theorie und Praxis

Der internationale Kongress „Wege zur Inklusion“ wurde von der International Association for the Scientific Study of Intellectual and Developmental Disabilities (IASSIDD), der Universität Wien und der Lebenshilfe Österreich veranstaltet.

Einer der großen Vorteile der Inklusion sei, dass man die Menschen dort lassen könne, wo sie zu Hause seien. Pospischil weiß, wovon sie spricht, ihr heute 34-jähriger Sohn konnte als Kind nicht einfach in den örtlichen Kindergarten und in die Volksschule gehen. Oft müssen Eltern weite Wege zurücklegen, um ihr Kind in eine Sonderschule oder eine Schule mit Integrationsklasse zu bringen.

Ohne Inklusion würden nicht nur Kinder, sondern ganze Familien aus der Gesellschaft ausgegrenzt, so Pospischil. Dass Inklusion höchst erfolgreich funktionieren kann, sieht sie nicht zuletzt in ihrer Heimatgemeinde Wiener Neudorf in Niederösterreich, wo alle Kinder gemeinsam in Kindergarten und Volksschule gehen können. Auch in Norwegen, Finnland und Südtirol haben inklusive Bildungsstätten eine lange Tradition. Auch der Kongress selbst zeigte, wie das gleichberechtigte und selbstverständliche Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung funktionieren kann. Unter den 800 Teilnehmern waren zahlreiche Menschen mit Behinderung vertreten, die ebenso Vorträge hielten und sich an den Diskussionen beteiligten wie Wissenschaftler und Experten.

Buchinger: Guter Wille ist da, Ressourcen nicht

Auch Erwin Buchinger (SPÖ), vom Sozialministerium bestellter Anwalt für Gleichbehandlungsfragen für Menschen mit Behinderung, ist davon überzeugt, dass es „eine Schule der Vielfalt für alle“ geben muss. Inhaltlich stehe das Schulwesen freilich noch am Anfang des Umbaus. Im Bildungsministerium fehle es nicht an gutem Willen, versichert Buchinger im Interview mit ORF.at. So seien etwa in der Lehrerbildung die erforderlichen Grundlagen bereits geschaffen worden.

Oft fehlten allerdings die erforderlichen Ressourcen, kritisiert der Behindertenanwalt. In den letzten Jahren seien etwa die Stellen von Hunderten Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen an Schulen abgebaut worden. Der Grund: Die Quote für sonderpädagogischen Förderbedarf an den Schulen wurde 1992 festgelegt und ist längst nicht mehr aktuell.

Konkrete Initiativen geplant

Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ) sprach sich Ende Mai im Unterrichtsausschuss des Nationalrats im Hinblick auf Inklusion an Schulen für eine „Politik der kleinen Schritte“ aus. Sie befürworte zwar ganz klar die Inklusion, wandte sich aber gegen eine Abschaffung der Sonderschulen „von heute auf morgen“. Der Grund: Österreichs Regelschulen könnten derzeit nicht allen sonderpädagogischen Bedürfnissen von Schülern Rechnung tragen. Kinder, die spezielle Bedürfnisse wie Kleingruppenunterricht hätten, dürften nicht durch eine plötzliche Abschaffung der Einrichtung Sonderschule überfordert werden, so die Ministerin. Sie plane aber intensive Gespräche mit allen Beteiligten, um ab dem Schuljahr 2015/16 konkrete Inklusionsinitiativen setzen zu können.

Gemeinsam leben und lernen

Die UNO-Menschenrechtskonvention wurde 2006 von der UNO-Generalversammlung in New York verabschiedet und trat 2008 in Kraft. Darin steht, dass jeder Mensch das Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben hat. Österreich gehörte zu den ersten Ländern, die dem Abkommen zustimmten. Artikel 24 besagt, dass niemand wegen einer Behin­derung vom all­ge­meinen Bil­dungssys­tem aus­geschlossen wer­den darf.

Sonderschulen sollen überflüssig werden

Unterstützung erhält Heinisch-Hosek zumindest in diesem Punkt von Gottfried Biewer, Professor am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. Auch er interpretiert die UNO-Konvention nicht so, dass alle Sonderschulen unmittelbar abgeschafft werden müssen. Die reguläre Schule müsse sich verändern, offen für Vielfalt sein und alle Kinder willkommen heißen, so Biewer im Gespräch mit ORF.at. Auf diese Weise sollten Sonderschulen letztlich überflüssig werden.

Bis dieser parallele Prozess - Sonderschulen ab- und Regelschulen umbauen - abgeschlossen sei, werde es nach Einschätzung Biewers aber noch dauern, denn: „Inklusion ist kein Selbstläufer.“ Man müsse die Politik immer wieder mit dem Thema konfrontieren, sonst werde es übersehen. Inklusion sei eben kein Thema, mit dem man Wählerstimmen gewinnen könne, so der Bildungswissenschaftler. Es gebe immer noch viele Vorbehalte. Um Dinge umzusetzen, brauche es mehr Anreize, aber auch mehr Druck vonseiten des Bildungsministeriums.

Paradigmenwechsel in der Lehrerbildung

Allerdings: Die Schule zu verändern sei Aufgabe einer ganzen Generation, so Biewer. Fortschritte seien bereits in der Lehrerbildung sichtbar. So finde sich ab dem kommenden Wintersemester für alle Lehramtsstudierenden - egal ob für Mathematik, Turnen oder Geografie - die Pflichtveranstaltung „Inklusive Schule und Vielfalt“ im Studienplan.

Die weltweite Entwicklung im Schulsystem gehe zweifellos in Richtung Inklusion, so der Bildungswissenschaftler. Doch auf dem Weg dorthin habe Österreich ähnliche Probleme wie viele andere Länder - mit Ausnahme von Vorreitern der Inklusion wie Norwegen und Finnland -: Es gibt laut Biewer einen Widerspruch zwischen dem durch die UNO-Ratifizierung geltenden Gesetz und dem, was im Land passiert. Letzteres sei vor allem im Bereich der Regelschule in Österreich nicht ausreichend.

Romana Beer, ORF.at

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