Einsatz auf „höchster Ebene“ geplant
Ägypten kommt seit dem Sturz des langjährigen Staatschefs Hosni Mubarak im Zuge des „arabischen Frühlings“ Anfang 2011 nicht zur Ruhe. Unter der Führung des Ex-Armeechefs und nunmehrigen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi sei es bei der brutalen Zerschlagung von Massendemonstrationen zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekommen, kritisiert die Organisation Human Rights Watch (HRW).
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Bei der Stürmung der Plätze Rabaa al-Adawija und Nahda in Kairo sei am 14. August 2013 systematisch „exzessive Gewalt“ angewendet worden, deshalb bestehe der Verdacht auf „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Soldaten und Polizisten schossen damals mit scharfer Munition auf Demonstranten, die mit Sitzblockaden gegen den Sturz des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi durch das Militär protestierten. HRW wertete das Vorgehen der Sicherheitskräfte rückblickend als „eine der brutalsten Massenhinrichtungen von Demonstranten in der jüngeren Weltgeschichte“.

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Die Sicherheitskräfte schossen laut dem Bericht 2013 bewusst auf Demonstranten
Die Organisation fordert Ermittlungen gegen Sisi. Der heutige Staatspräsident ebenso wie gut ein Dutzend andere ranghohe Staatsbedienstete hätten in Zusammenhang mit der Massentötung islamistischer Demonstranten Verantwortung getragen, heißt es in einem am Dienstag veröffentlichten HRW-Bericht. Der UNO-Menschenrechtsrat solle eine internationale Untersuchungskommission einrichten.
Mindestens 817 Tote allein auf einem Platz
Die Organisation geht nach einjährigen Recherchen und Interviews mit mehr als 200 Augenzeugen davon aus, dass alleine auf dem Rabaa-al-Adawija-Platz mindestens 817 Demonstranten getötet wurden, wahrscheinlich sogar mehr als tausend. Der im Mai dieses Jahres zum neuen Präsidenten Ägyptens gewählte General Sisi war zum damaligen Zeitpunkt Verteidigungsminister. Unter seiner Ägide war Mursi des Amtes enthoben und eine neue Staatsführung installiert worden, die beide Plätze nach vorherigen Warnungen schließlich räumen ließ.
Flucht unmöglich, Schützen gegen Schutzsuchende
Eindrücklich werden die Ereignisse des 14. August im HRW-Bericht nachgezeichnet: Da die Armee das Zeltlager von allen Haupteingängen aus mit bewaffneten Mannschaftswagen, Räumfahrzeugen, Infanteristen und Scharfschützen angegriffen habe, sei fast zwölf Stunden lang keine sichere Flucht möglich gewesen. Demnach beschossen die Sicherheitskräfte sogar „behelfsmäßige medizinische Einrichtungen und setzten Scharfschützen gegen Personen ein, die versuchten, in das Rabaa-Krankenhaus hinein- oder aus ihm herauszugelangen“.

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HRW fordert eine Untersuchung durch den UNO-Menschenrechtsrat
Das Blutvergießen markierte den Beginn einer monatelangen Kampagne gegen die islamistische Muslimbruderschaft, die später als Terrororganisation eingestuft wurde. Ihr politischer Arm wurde vergangene Woche mit einem Parteiverbot belegt. Zuvor waren bereits Tausende Islamisten inhaftiert und mehr als 200 zum Tode verurteilt worden.
Bericht: Eingriff unverhältnismäßig
Zwar hätten ägyptische Amtsträger die gewaltsame Zeltlagerräumung mit Beschwerden von Anrainern und Gegenangriffen der Islamisten gerechtfertigt, erklärte HRW. Die Tötung von mindestens 817 Demonstranten stehe jedoch „eindeutig in keinem Verhältnis zu der Gefahr für Anrainer, Sicherheitspersonal oder andere Personen“ - auch wenn zu Beginn der Räumung einige hundert der schätzungsweise 85.000 Demonstranten mit Steinen und Molotowcocktails auf Polizisten geworfen und diese vereinzelt auch beschossen hätten.
„Die Sicherheitskräfte haben erwiesenermaßen von der ersten Minute an das Feuer auf Menschenmengen eröffnet“, heißt es in dem fast 200 Seiten langen Untersuchungsbericht. „Das entlarvt alle Behauptungen, die Regierung habe versucht, die Todeszahlen gering zu halten.“ Der gewaltsame Einsatz sei erwiesenermaßen auf höchster Regierungsebene geplant worden - und die meisten Verantwortlichen seien noch immer an der Macht. Falls Sisi und anderen Führungskräften ihre Beteiligung eindeutig nachgewiesen werden könne, müssten sie „endlich zur Rechenschaft gezogen werden“.
HRW-Mitarbeitern Einreise verweigert
HRW wollte den Bericht eigentlich in Kairo vorstellen. Doch sowohl der Leiter von HRW, Kenneth Roth, als auch die Nahost-Direktorin Sarah Leah Whitson hätten „aus Sicherheitsgründen“ kein Visum bekommen. Wie die Organisation mit Sitz in New York weiter mitteilte, seien die beiden in der Nacht auf Montag zwölf Stunden lang auf dem Flughafen von Kairo festgehalten worden. Whitson schrieb im Kurznachrichtendienst Twitter vom „kürzesten Kairo-Besuch aller Zeiten“.
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