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Mehrheit im ersten Wahlgang?

Die türkische Bevölkerung hat am Sonntag erstmals ihr Staatsoberhaupt bei einer Direktwahl gewählt. Fast 53 Millionen Türken waren an die Urnen gerufen - darunter 15 Millionen türkische Kurden. Dass Recep Tayyip Erdogan die Präsidentenwahl in der Türkei gewinnen wird, galt bereits im Vorfald als so gut wie sicher.

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Fraglich war nur, ob der bisherige Regierungschef und designierte Präsidentschaftskandidat der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) seinen Sieg bereits im ersten Wahldurchgang einholen kann oder sich am 24. August noch einmal einer Stichwahl stellen muss. Aufschluss darüber werden nun die in wenigen Stunden erwarteten ersten Exit Polls geben.

Präsidentenamt soll aufgewertet werden

Außer Frage steht: Ein zweiter Wahlgang käme für Erdogan bereits einer kleinen Niederlage gleich - kam er in Meinungsumfragen doch bereits auf 51 bis 58 Prozent der Stimmen. Dem Regierungschef muss auch daran gelegen sein, möglichst ohne Kratzer aus der Wahl hervorzugehen. Schließlich plant Erdogan eine der größten politischen Umgestaltungen in der Geschichte der Türkei. Bisher ist das Land als parlamentarische Demokratie verfasst - dem Präsidenten kommt darin vor allem eine repräsentative Funktion zu.

Erdogan-Anhänger mit türkischen Fahnen

Reuters/Murad Sezer

Erdogan ging als haushoher Favorit in den Wahlkampf um das Präsidentenamt

Geht es nach Erdogan und seiner AKP, soll sich das ehebaldigst ändern. Einen „Präsidenten, der läuft und schwitzt“ und nicht nur im Amtszimmer sitzt, Gesetze in Kraft setzt oder Staatsgäste empfängt, versprach Erdogan seinen Wählern bei seinem Wahlkampfauftakt Anfang Juli. Dass ein solcher Präsident auch mit weitaus mehr Befugnissen ausgestattet werden soll, ist ein offenes Geheimnis.

Zentralisierung der Macht

Erdogan darf nach den Statuten seiner Partei für keine vierte Amtszeit als Premier kandidieren. Die könnte er als Parteivorsitzender zwar problemlos ändern lassen, doch helfen dem Regierungschef die aktuellen AKP-Statuten dabei, parteiinterne Skeptiker loszuwerden, die bei den Parlamentswahlen 2015 nicht mehr kandidieren dürfen. Die Lösung soll ein semipräsidiales System bringen, in dem ein zukünftiger Präsident das Land quasi im Alleingang führen kann.

Kritiker sehen deshalb in Erdogans Plänen den Versuch, die Macht in den Händen eines Einzelnen zu bündeln. Erdogan wolle das Präsidentenamt als Instrument benutzen, um sich selbst zum Anführer der islamischen Welt zu machen, warf etwa Faruk Logoglu, Vizechef der Republikanischen Volkspartei (CHP), dem Regierungschef vor.

Aufwendiger Wahlkampf auch im Ausland

Noch fehlt der AKP für eine dafür erforderliche Verfassungsänderung die nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament. Doch bereits bei der Parlamentswahl im kommenden Jahr soll sich das ändern. Auch im Hinblick darauf ist es Erdogan daran gelegen, aus den Präsidentenwahlen als strahlender Sieger hervorzugehen und einen zweiten Wahldurchgang zu vermeiden.

Erdogan steckte deshalb beträchtliche Zeit und Mittel in seinen Wahlkampf. Bereits vor seiner offiziellen Nominierung als Präsidentschaftskandidat warb der Regierungschef auf Reisen nach Deutschland und Österreich um die Stimmen von Auslandstürken - wenngleich Erdogan und die AKP Vorwürfe eines versteckten Wahlkampfs immer zurückwiesen. Dass die erhoffte hohe Wahlbeteiligung im Ausland letztlich auslieb, dürfte Erdogan dabei kaum geschadet haben.

Kaum Gefahr durch Konkurrenten

Erdogans beide Gegenkandidaten hatten dem Regierungschef wenig entgegenzusetzen. Als stärkster Konkurrent konnte noch der frühere Generalsekretär der Islamischen Weltkonferenz, Ekmeleddin Ihsanoglu, gelten. Er wurde von den beiden größten Oppositionsparteien - der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und der CHP - aufgestellt. Als Sohn türkischer Auswanderer wurde der Diplomat in Ägypten geboren und zog erst mit 27 Jahren in die Türkei: ein Makel, auf den Erdogan nur zu gerne hinweist.

Ekmeleddin Ihsanoglu fährt in einem Wahlkampfbus

Reuters

Ihsanoglu muss seinen Patriotismus gegen Erdogans Vorwürfe verteidigen

Auch dem zweiten Gegenkandidaten stand wohl seine Herkunft im Weg. Seahattin Demitras ging für die prokurdische demokratische Volkspartei ins Rennen. Und auch wenn der Anwalt versucht, sich bewusst von der Rolle des reinen Kurdenpolitikers zu entfernen, macht ihn sein Hintergrund für viele Türken schlicht unwählbar.

Mediales Ungleichgewicht

Auch abseits dieser Schwachpunkte wären seine beiden Gegner für Erdogan kaum eine Gefahr. Im staatlichen TV- und Radiosender TRT genoss Erdogan eine wohlwollende und umfangreiche Berichterstattung. Bereits zum Wahlkampfauftakt berichtete TRT auf allen seinen TV-Kanälen mehr als 300 Minuten über Erdogan. Die beiden Gegenkandidaten kamen gemeinsam auf nicht einmal vier Minuten - eine Unverhältnismäßigkeit, an der sich in den folgenden Wochen nichts Grundlegendes änderte.

Vorbild Atatürk?

An der medialen Präsenz Erdogans konnte auch die jüngste Entscheidung des türkischen Aufsichtsgremiums für die Wahl nichts ändern. Der Hohe Wahlrat (YSK) verbat einen Wahlkampfspot Erdogans wegen exzessiver religiöser Symbolik. Das dreiminütige Video, das seit Montag bis zum Ende des Wahlkampfs im Fernsehen lief, verstoße gegen das Verbot religiöser Symbole in Wahlkampfspots, so das Urteil laut der Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi.

Die Trennung von Politik und Religion, die hinter dem Verbot steht, geht im Kern auf den Gründer der modernen Türkei - Mustafa Kemal Atatürk - zurück. Und auch wenn Erdogans Kritiker ihm vorwerfen, mit seiner Politik die von Atatürk geprägten Grundsätze zu unterhöhlen: Gewinnt Erdogan die Wahl, wäre nur noch der legendäre Staatsgründer länger an der Macht gewesen als er.

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