Gewalt in Familien „kein Nischenthema“
62 Millionen Frauen in der EU sind seit ihrem 15. Lebensjahr zumindest einmal Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt geworden, eine von 20 Frauen wurde Opfer einer Vergewaltigung. Das zeigt die bisher größte Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), für die 42.000 Frauen in den 28 EU-Mitgliedländern befragt wurden.
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Oft lauert die Gefahr für Frauen in den eigenen vier Wänden: 22 Prozent der Befragten gaben an, schon einmal durch ihren aktuellen oder einen früheren Lebensgefährten sexuelle Gewalt erfahren zu haben, 43 Prozent wurden psychisch bedroht. „Das ist kein Nischenthema. Wir sprechen von Müttern, Töchtern und Schwestern, die sexuell, psychisch oder physisch missbraucht wurden“, sagte FRA-Direktor Morten Kjaerum. Zu körperlicher Gewalt zählt die Studie etwa, wenn Frauen geschlagen, an den Haaren gezogen oder mit harten Objekten attackiert werden. Sexuelle Gewalt bedeute Vergewaltigung oder versuchte Vergewaltigung.
Weltgrößte Studie
Für die FRA-Umfrage wurden pro Land 1.500 Frauen im Alter von 18 bis 74 Jahren in persönlichen Gesprächen mit weiblichen Interviewerinnen zu ihren Erfahrungen mit sexueller, physischer und psychischer Gewalt befragt. Nur in Luxemburg umfasste die Stichprobe nur 900 Frauen.
Oft werden diese Übergriffe in Beziehungen der Studie zufolge zum Alltag. Auch Schwangere würden dann nur selten verschont. „Frauen sind nicht sicher auf den Straßen, am Arbeitsplatz und schlussendlich auch nicht zu Hause, dem Platz, an dem sie Schutz finden sollten“, so Kjaerum. Nur 33 Prozent der Frauen in Partnerschaften meldeten der Polizei oder anderen Stellen, was ihnen angetan wurde. Vergewaltigungen durch Fremde würden schneller angezeigt. Häufiger als Frauenhäuser suchen Betroffene medizinische Einrichtungen auf. 87 Prozent der Befragten wünschen sich bessere Schulung des medizinischen Personals.
Gewalt beginnt schon in der Kindheit
Die Teilnehmerinnen wurden auch zu Erlebnissen in ihrer Kindheit befragt: Dabei stellte sich heraus, dass zwölf Prozent aller Befragten bereits vor ihrem 15. Lebensjahr in irgendeiner Form sexuell belästigt worden sind. Dazu zählt, wenn Erwachsene ihre Genitalien demonstrativ zur Schau stellten oder unsittliche Berührungen im Intimbereich vornahmen.
Täter waren in diesem Fall fast ausschließlich Männer, wie die Frauen laut Studie berichteten. Solche Übergriffe führe bei einem Drittel der Frauen dazu, in späteren Beziehungen wieder zum Opfer zu werden. Noch verbreiteter ist körperliche Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Mehr als ein Viertel der Befragten hat bis zum Jugendalter physische Gewalt erlebt. Frauen wie Männer schlagen in diesem Fall laut Studie fast gleich oft zu.
Sexuelle Belästigung weit verbreitet
Noch höher sind die Zahlen, wenn es um Belästigungen geht: Es zeigte sich, dass jede zweite Befragte schon einmal sexuell belästigt wurde. 32 Prozent wurden durch Vorgesetzte, Kollegen oder Kunden gegen ihren Willen berührt, gedrückt oder geküsst. Vor allem gut ausgebildete Frauen in Spitzenpositionen sprachen davon. Das könnte aber damit zusammenhängen, dass diese Gruppe Grenzüberschreitungen besser einschätzen könne und das auch meldet.
Neun Mio. Frauen Opfer von Stalking
Auch innerhalb von Sozialen Netzwerken werden immer mehr Frauen Opfer von sexueller Belästigung: Eine von zehn gab an, unangemessene Annäherungsversuche oder E-Mails und SMS-Nachrichten mit eindeutigem sexuellem Inhalt erhalten zu haben. Frauen von 18 bis 29 Jahren werden sogar doppelt so häufig auf diese Weise belästigt. EU-weit wurden neun Millionen Frauen Opfer von Stalking. Für jede fünfte Befragte traf das für einen Zeitraum von zwei Jahren zu, 23 Prozent änderten deshalb bereits ihre E-Mail-Adresse oder Telefonnummer.
Nördliche Länder stärker betroffen
Im Ländervergleich gehört Österreich mit 13 Prozent zu den „sicheren“ Ländern, was die physische oder sexuelle Gewalt durch den Partner betrifft. In den nördlichen Ländern Europas fallen die Zahlen höher aus. Die höchste Gewaltrate meldeten Frauen der Studie zufolge in Dänemark (52 Prozent), Finnland (47 Prozent) und Schweden (46 Prozent). Deutschland liegt mit 35 Prozent etwas über dem EU-Schnitt (33 Prozent).

APA/Margret Schmitt; ORF.at
Die Zahlen sollen laut Studienautoren aber nicht zu voreiligen Schlussfolgerungen führen. So können diese Unterschiede laut Joanna Goodey, Vorsitzende der FRA-Abteilung für Freiheit- und Justiz, auf unterschiedliche Trinkgewohnheiten innerhalb der Staaten, abweichende Grade der Verschwiegenheit bei gewissen Themen sowie die Geschlechtergleichheit und verschiedene Risikofaktoren für Frauen zurückgeführt werden.
„Nur weil ein Land in diesem Vergleich besser dasteht, heißt es aber nicht, dass die Ergebnisse gut sind. Das beste Ergebnis war, dass nur eine von fünf Frauen sexuelle Gewalt erlebt hat. Das ist immer noch viel zu viel“, so Goodey. Um die Situation der weiblichen Bevölkerung innerhalb der EU zu verbessern, schlägt die Studie vor, dass Arbeitgeber, Beschäftigte im Gesundheitsbereich und in Bildungseinrichtungen geschult werden, um Anzeichen diverser Formen der Gewalt künftig früher erkennen zu können.
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