Keine Hoffnung auf baldige Rückkehr
Mit Stand 14. Juli gibt es im Libanon 1.128.193 offiziell registrierte Flüchtlinge aus Syrien, Schätzungen zufolge dürfte aber bereits die Zwei-Millionen-Grenze überschritten worden sein - und jeden Tag kommen rund 2.500 neue hinzu. Allein die blanken Zahlen verweisen auf ein Flüchtlingsdrama von unvorstellbaren Dimensionen, offizielle Flüchtlingscamps sucht man in dem Vier-Millionen-Einwohner-Land dennoch vergeblich.
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Angewiesen auf die Unterstützung der zunehmend überforderten Hilfsorganisationen wird vielmehr in improvisierten Zeltlagern, Rohbauten und Garagen Unterschlupf gesucht, und in manchen Teilen des Libanon wird selbst Platz wie dieser zunehmend knapp. Mancherorts sei nicht einmal mehr eine Hundehütte zu finden, so Caritas-Nahost-Kordinator Stefan Maier, der gleichzeitig eingestand, in seiner 24-jährigen Tätigkeit in der Region kaum Vergleichbares gesehen zu haben.

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Zwölf Familien teilen sich seit kurzem ein Gewächshaus im Hinterland von Beirut
Zwischenstation im Gewächshaus
Während völlig offen bleibt, welche Auswirkungen die Flüchtlingsproblematik auf den ohnehin gebeutelten und nun auch demografisch völlig aus dem Gleichgewicht gebrachten Libanon noch hat, wird die Lage auch für die Betroffenen immer prekärer. Da die zur Verfügung stehenden Mittel schon lange nicht mehr für alle reichen, sah man sich etwa beim Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) bereits im Vorjahr dazu gezwungen, die Kriterien für den Anspruch auf Nothilfe drastisch zu verschärfen.
Von den damals 700.000 Flüchtlingen wurden in direkter Folge 200.000 wieder aus den Listen gestrichen - eine nahe der nordlibanesischen Stadt Tripoli gestrandete Familie kann sich aus diesem Grund selbst Milch für ein wenige Monate altes Kleinkind kaum mehr leisten.

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Rund 110 Euro pro Monat bezahlt diese Familie für ihre Notunterkunft
Deutlich wird damit vor allem eines: Es sind Einzelschicksale wie diese, die dem Flüchtlingsdrama im Libanon ein Gesicht geben - möglich ist dennoch nur punktuelle Hilfe, wie auch von der Caritas Österreich, die ORF.at zum Lokalaugenschein geladen hat, offen eingestanden wird. Zuletzt gelang es etwa, im gebirgigen Hinterland von Beirut zwölf Familien in einem Gewächshaus unterzubringen - die Odyssee für die insgesamt 52 Personen ist damit aber noch lange nicht zu Ende.
Geflohen vor den Kämpfen in Homs führte diese bereits in Syrien durch mehrere Lager, und in wenigen Monaten muss bereits die nächste, diesmal winterfeste, Unterkunft gefunden werden. Bis dahin gilt es sich mit Gelegenheitsjobs durchzuschlagen und sich damit auch die vom Grundbesitzer geforderte Pacht leisten zu können - Kostenpunkt 150 Dollar (110 Euro) pro Monat und Familie.
Eine der wenigen „glücklichen Familien“
Von der schwerwiegenden Frage, die ohnehin kaum vorhandenen Mittel für Lebensmittel, dringend benötigte Medikamente oder die fällige Miete (diesmal 200 Dollar bzw. 147 Euro) auszugeben, steht in der nahe gelegenen Ortschaft Balloune auch eine in einem Rohbau untergebrachte sechsköpfige Familie. Unterstützung kommt in diesem Fall von einem im Libanon lebenden Cousin - angesichts der im Land steigenden Arbeitslosigkeit fürchtet aber auch dieser zunehmend um seine Existenz.

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Einige wenige Quadratmeter für sechs Personen - ein Notquartier in einem Rohbau in Balloune im Libanongebirge
Nur wenige Häuser weiter bleibt den Al-Kerdehs immerhin eine zu bezahlende Miete erspart. Als eine der wenigen „glücklichen Familien“ können sie gratis in einer Tiefgarage wohnen und kümmern sich im Gegenzug um das umfangreiche Haus des offensichtlich nicht mittellosen Eigentümers.
Flüchtlingshotspot Bekaa-Ebene
Weit weniger versteckt zeigt sich die humanitäre Katastrophe in der direkt an Syrien grenzenden Bekaa-Ebene. Allein die früher unvorstellbare Tatsache, dass in dem von der schiitischen Hisbollah-Miliz kontrollierten Region immer mehr Sunniten ihre Notlager aufschlagen, zeugt von der Dimension des zunehmend auch den sozialen Frieden im Land bedrohenden humanitären Krise.

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Seit drei Jahren Unterkunft für 20 Familien - ein Rohbau nahe der Stadt Zahle
An der Hauptverbindungsstrecke zwischen Beirut und der syrischen Hauptstadt Damaskus findet sich derzeit die größte Konzentration an syrischen Flüchtlingen. Eine genaue Zahl konnte selbst das in der Regionalhauptstadt Zahle gelegene Caritas-Regionalzentrum nicht nennen - es handle sich aber um mehrere Zehntausende Familien, so die zuständige Koordinatorin Maria Bou Diwan. 20 davon leben seit mittlerweile drei Jahren zusammengepfercht in einem Rohbau am Rande der 150.000-Einwohner-Stadt. Die Situation erscheint trostlos - im Vergleich zu den zahllosen wilden Zeltlagern, die sich in der Bekaa-Ebene finden, haben die rund 100 Bewohner aber immerhin ein festes Dach über den Kopf.

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Hunderte wilde Zeltlager reihen sich an den Straßen der Bekaa-Ebene - das Gebirge im Hintergrund bildet die Grenze zu Syrien
Dennoch sind auch die aus Abfallmaterialien zusammengeflickten Zelte und Baracken wohl für einen längeren Aufenthalt ausgelegt. Zu gering erscheint auch hier die Hoffnung auf baldige Rückkehr in das nur wenige Kilometer entfernte Syrien.
Keine Not ohne Profiteure
Von den Hilfsorganisationen mit dem Notwendigsten versorgt, zeigt sich gleichzeitig, dass es keine Notlage gibt, von der nicht einige wenige profitieren: Auch in den Zeltlagern muss Pacht an die Grundbesitzer bezahlt werden, und diese wird meist zu Niedrigstlöhnen in den umliegenden Feldern verdient. Als prägnantestes Beispiel gilt hier wohl ein ehemaliges Einkaufszentrum im Norden des Landes: Als Konsumtempel gescheitert, sorgen nun die Ärmsten der Armen für volle Geschäfte.

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Über 1.000 Bewohner zählt ein aufgelassenes Shoppingcenter im Nordlibanon
Wäre es nicht traurige Realität - Hollywood könnte zu den Folgen einer Apokalypse keine bessere Kulisse erfinden. Offene Stromleitungen, Wasserrohrbrüche und von Schimmel befallene Wände prägen das Bild des von über 1.000 Menschen bewohnten ehemaligen Shoppingcenters.
Die von den Eigentümern ausgestellten Rechnungen erinnern dennoch an das ursprüngliche Geschäftsmodell. „Die oberen Stöcke sind teurer“, bestätigt jedenfalls auch eine mehrfache Mutter, die sich mit insgesamt neun Familienangehörigen zwei Räume in der obersten Etage teilt. Tägliche Luftangriffe haben die damals Schwangere vor eineinhalb Jahren zur Flucht aus Hama gezwungen - andernfalls wäre die 42-Jährige wohl wie ihre Eltern geblieben. Krieg gibt es im Libanon zwar keinen, so das ernüchternde Urteil: Von Normalität sei aber nicht nur in Syrien, sondern auch im Flüchtlingscamp keine Spur.
Peter Prantner, ORF.at aus Beirut
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