Die mächtige „Mutti“
Noch fehlen ihr sieben Jahre auf den Rekord von Altkanzler Helmut Kohl - doch wenn Angela Merkel am Donnerstagabend offiziell ihren 60. Geburtstag feiert, ist die deutsche Kanzlerin vielleicht trotzdem mächtiger und einflussreicher als alle ihre Amtsvorgänger.
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Merkel ist innerparteilich und innenpolitisch unangefochten, in der EU geht gegen ihren Willen gar nichts - und auch die USA, China und Russland haben gehörigen Respekt vor jener Politikerin, die sich von der DDR-Physikerin über das „Mädchen Kohls“ hin zur „Mutti der Nation“ entwickelte. Mit dem mittlerweile obligaten Besuch in der Kabine des deutschen Fußballnationalteams nach Entscheidungsspielen und dem Erringen des vierten deutschen WM-Titels wurde Merkel obendrein quasi zur Vier-Sterne-Kanzlerin.
Freundlich schweigen, ansatzlos handeln
Ein ausgeprägter Sinn für Macht und Taktik in Kombination mit der Fähigkeit, aus Rückschlägen letztlich gestärkt hervorzugehen - so lässt sich wohl Merkels Erfolgsrezept kurz umreißen. Das bekommt derzeit sogar US-Präsident Barack Obama im Zuge der NSA-Spionageaffäre zu spüren. Wie auch bei anderen strittigen Themen wartete Merkel zunächst lange zu und schwieg weitgehend.
Doch dann legte Merkel letzte Woche mit einem Schlag eines der wichtigsten bilateralen Verhältnisse auf Eis - und überraschte damit alle, Obama inklusive. Dieser hatte der im direkten Kontakt stets freundlichen Merkel einen solch radikalen Schritt - die Ausweisung des obersten US-Geheimdienstmannes aus Deutschland - offenbar schlicht nicht zugetraut.

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Merkel und Obama sind wohl pragmatisch genug, um die transatlantische Achse trotz Spionageaffäre nicht zu gefährden
Merkel ließ damit die im eigenen Land wachsende Kritik im Umgang mit der umfassenden US-Überwachung und den Spionageversuchen bei dem engen Verbündeten ins Leere laufen und sandte zugleich ein klares Signal nach Washington. Da die Ausweisung letztlich vor allem eine - wenn auch äußerst schroffe - Geste ist, und auch die USA nicht an einer Eskalierung interessiert sein können, behält Merkel weiter alle Optionen und hat zugleich die Handlungshoheit auf ihrer Seite.
Dauerspekulationen über Zukunft
Nicht erst zu ihrem 60. Geburtstag, zu dem sie sich eine Rede des Historikers Jürgen Osterhammel mit dem programmatischen Titel „Vergangenheiten: Über die Zeithorizonte der Geschichte“ bestellte, stellen sich viele die Frage nach Merkels Zukunftsplänen. Will sie 2017 nochmals zur Wahl antreten? Will sie gar den 16-Jahre-Rekord des von ihr innerparteilich gestürzten Übervaters Helmut Kohl übertreffen? Oder strebt sie einen internationalen Topposten an? Von UNO-Generalsekretärin abwärts wurde Merkel bereits für fast jede Funktion ins Spiel gebracht.

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Merkel darf sich 2013 im Wahlkampf geliebt fühlen
Merkel selbst schweigt sich weitgehend aus - nur eine fliegende Amtsübergabe in der laufenden Legislaturperiode schloss sie aus. Dazu gibt es auch keinerlei Anlass - immerhin will sie jeder vierte Deutsche laut einer Forsa-Umfrage für das Magazin „Stern“ auch zu ihrem 70. Geburtstag im Kanzleramt sehen. Und laut einer anderen Forsa-Umfrage für das „Handelsblatt“ glauben nur 14 Prozent, dass ein anderer CDU-Politiker Merkels Wahlerfolg vom Vorjahr 2017 wiederholen kann.
Die Wandlungen einer Karriere
Von einer Parteipolitikerin - erst als CDU-Generalsekretärin konsolidierte sie ihre Macht, stürzte im Zuge der Parteispendenaffäre das Denkmal Kohl vom Sockel und drängte den „ewigen Kronprinzen“ Wolfgang Schäuble aus dem Parteivorsitz - über die Innenpolitikerin entdeckte Merkel seit der Euro-Krise immer mehr die Außenpolitikerin in sich.

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Helmut Kohl protegierte Merkel in der CDU und in der Regierung. Jahre später hatte diese keine Skrupel, die Partei zum Sturz des wegen einer Parteispendenaffäre angeschlagenen CDU-Übervaters aufzufordern.
In allen Phasen ihres Politikerlebens musste sie mit Rückschlägen umgehen lernen. So verzichtete sie 2002 - freilich aus wohlfeilem Kalkül - auf die Kanzlerkandidatur zugunsten Edmund Stoibers. Bei der Bundestagswahl 2005 war Merkel erstmals CDU/CSU-Spitzenkandidatin, schnitt aber deutlich schlechter ab als erwartet. Trotzdem schaffte sie es, eine Koalition mit der fast gleichstarken SPD zu schmieden - mit ihr als Kanzlerin. 2013 wiederum verfehlte Merkel nur knapp eine absolute Mandatsmehrheit. Das Fiasko der FDP ließ ihre Optionen aber wegschmelzen, sie kehrte zur Koalition mit der SPD zurück, vergleichsweise weitgehende Zugeständnisse inklusive.
„Immer aus Krisen herausgekommen“
Zuletzt machte sie im Streit über die Bestellung von Jean-Claude Juncker zum EU-Kommissionspräsidenten denkbar schlechte Figur. Dass Beobachter und Politiker sie bereits in der Klemme wähnen, muss aber, so die „Süddeutsche Zeitung“ („SZ“) zuletzt in einem Kommentar, folgenlos bleiben: Die Antwort auf die Frage, wie sie die Juncker-Causa unbeschadet überstehen soll, sei „simpel: Sie wird es nicht unbeschadet überstehen. Merkel ist schon oft aus politischen Krisen ziemlich gerupft herausgekommen. Nur: Sie ist immer herausgekommen.“
Zwiespältige Mutterrolle
Mit ihrem „Zug“ zur Macht und ihrem taktischen Gespür allein lässt sich Merkels Erfolg, insbesondere abseits des politischen Parketts bei den deutschen Wählern, wohl nicht erklären. Dass sie mittlerweile den durchaus zwischen Anbiederung, Ironie und Abwertung oszillierenden Spitznamen „Mutti der Nation“ trägt, gibt in deutschen Medien immer wieder zu psychologischen Erklärversuchen Anlass.
Bei Merkels Mutterrolle spiele das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit eine entscheidende Rolle, so die Psychoanalytikerin Thea Bauriedl in einem „Zeit“-Interview: „In der Beziehung zu Angela Merkel haben anscheinend viele die Verantwortung für ihre Sicherheit an die Mutti abgetreten.“ Das Spiel mit dem „Mutti“-Prinzip führe zu einer Entpolitisierung. Das widerspreche „zu großen Teilen dem Grundprinzip der Demokratie, der verantwortlichen Selbstbestimmung jedes einzelnen Menschen in der Gemeinschaft. (...) Wir wählen dann immer wieder eine Art von Sicherheit, die unsere Selbstbestimmung einschränkt“, so Bauriedl.
Schlechte Ersatzmutter gewählt
Der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz geht in seiner Analyse noch weiter und betont, Merkels Erfolg liege darin, dass sie wenig gute Mütterlichkeit verkörpere. Das decke sich mit der persönlichen Kindheitserfahrung der meisten Menschen. Mit Merkel hätten die Wähler also eine Ersatzmutter gewählt, die diesen garantiere, dass sie nicht an ihren „Muttermangel“ erinnert würden, so Maaz.
Wie auch immer - die mediale Psychologisierung der Kanzlerin ist in jedem Fall ein klarer Hinweis auf eines: Die im persönlichen Auftreten oft so vergleichsweise unscheinbare Person der Kanzlerin ist mittlerweile international wie national so sehr mit Bedeutungen aufgeladen, dass ein baldiges Ende ihrer Politkarriere für viele beinahe unvorstellbar scheint.
Guido Tiefenthaler, ORF.at
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