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„Argentinien ist Papst, Deutschland Weltmeister“

Es war ein Bild mit Symbolwert. Der Schlusspfiff im Maracana erteilt, und auf der Ehrentribüne springen zwei zugleich auf, die man politisch selten im Gleichklang erlebt. Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel und der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck - synchron wie nie zuvor. Und auch bei den Spielern in der Kabine erschienen die beiden gemeinsam. Deutschlands Sieg bei der WM 2014 wirkt in vielem anders als deutsche Siege in der Vergangenheit. Kein Triumphgetöse, sondern eher ein Endlich-Gefühl, dass man nach langer Aufbauarbeit die Früchte des Erfolgs ernten kann. Und auch im Ausland wird das gewürdigt.

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„Ich war so emotional bewegt, und neben mir saß die Kanzlerin, der ging es genauso“, fasste Gauck in der Nacht von Rio seine Emotionen zusammen - und es schien, als wäre er nicht mehr zu stoppen im Reden und in seiner Begeisterung. Hier verließ ein Politiker seine Rolle und machte aus seinem Herz kindlicher Begeisterung keine Mördergrube: „Wir waren in dieser Woge der Emotionen drin. Das war ein wunderbares Turnier, das wir in dieser Begeisterung so nie wieder erleben werden. Ich denke in diesem Augenblick auch an 1954, und jetzt bin ich 60 Jahre später hier - es ist unbeschreiblich. Wir haben Stars, aber wir haben eben auch eine Mannschaft - das kann nicht jeder. Deswegen Dank dieser wunderbaren Mannschaft.“

Das deutsche Fussballteam mit Angela Merkel und Joachim Gauck

AP/Deutsche Bundesregierung/Guido Bergmann

Gemeinsam reisten Gauck und Merkel nach Rio. Und gemeinsam zogen sie auch in die Katakomben zu den Siegern.

Anderes Auftreten als früher

Gauck, der Bürgerrechtler, erinnerte aber auch daran, was Deutschland vielleicht anders gemacht hat gegenüber der Vergangenheit. Er sprach von der zurückgenommenen Geste nach dem Semifinale - und dass einem das die Brasilianer wohl angerechnet hätten. „Mit Brasilien im Herzen ist Deutschland Vierfachweltmeister", schrieb die brasilianische Sportzeitung „Lance!“ treffend - tat sich aber auch wohl ein wenig leicht, auf der Seite Deutschlands zu sein, während man den Erzrivalen Argentinien am Boden liegen sieht.

Selfie mit Podolsky und Bastian Schweinsteiger

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„Es ist ein völlig verdienter Erfolg“, konstatierte die französische „Le Parisien“ für die Nachbarn: „Dieses Team war das beste WM-Team und eine Mannschaft, die sich in den vergangenen Jahren kontinuierlich weiterentwickelt hat. (...) Deutschland ist nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch in Sachen Fußball eine Supermacht. Das Land hat es geschafft, ein tadelloses System aufzubauen - mit finanziell gesunden Clubs und der entsprechenden Ausbildung.“

Bastian Schweinsteiger, Angela Merkel, Andre Schuerrle und Joachim Gauck

Reuters/Kai Pfaffenbach

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„Selbstbild vom Fußball sanktioniert“

Gunter Gebauer, Kulturwissenschaftler und Sportgeschichtsexperte, war sich schon im Vorfeld des Finales sicher: „Wenn die Mannschaft gewinnen wird, bekommen wir ein sehr schmeichelhaftes Bild, das Deutschland gerne annehmen wird, denn mit dem WM-Titel ist das Bild von Deutschland sanktioniert, da ist ein Stempel drauf. Dann kann man sagen: Jetzt ist es wirklich so, jetzt kann man dran glauben. Deshalb spielt der Fußball in der Selbstwahrnehmung so eine wichtige Rolle.“

Philipp Lahm, Dilma Rousseff und Sepp Blatter

Reuters/Fabrizio Bensch

Wer darf Lahm den Pokal überreichen? Die FIFA machte auch am Schluss des Turniers nicht immer die beste Figur. Den deutschen Spielern war es herzlich egal, wer den Pokal übergibt.

2002 sei die deutsche Nationalmannschaft nicht beliebt gewesen, das seien die berüchtigten „Rumpelfüßler“ gewesen, „die zwar vor Kraft gestrotzt, aber sonst eher das Bild des ‚hässlichen Deutschen‘ bedient“ hätten.

Dieses Image hat Deutschland in der Nacht von Rio 2014 abgelegt: Lob und Anerkennung kommt aus allen Sportkreisen Europas. Und bis auf die Niederlande können alle würdigen, dass eine europäische Mannschaft erstmals in Lateinamerika den Weltmeistertitel gewonnen hat. „Mit Schmerzen, Mühe und auch noch etwas Glück hat Deutschland am Sonntag den vierten Welttitel erobert“, kommentierte der niederländische „De Volkskrant“. Viele waren an dem Abend heilfroh, dass einem ein Finale Deutschland-Niederlande erspart geblieben war.

„Die Party in Rio ist deutsch“

„Die Party in Rio ist deutsch. Für den Fußball ist es ein historischer Tag: der erste Triumph eines europäischen Teams in Südamerika. Es hat das stärkste Team gewonnen. Daran gibt es keinen Zweifel. Das Team hat im Finale nicht sein bestes Spiel gezeigt, aber wieder einmal Charakter und Persönlichkeit gezeigt“, schrieb dagegen „La Repubblica“ aus Rom.

Angela Merkel und Manuel Neuer

AP/Victor Caivano

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„Wir! Sind! Weltmeister!“ schrieb die „Huffington Post“ auf Deutsch zu ihrem WM-Bericht, und die „Washington Post“ konstatierte: „Als immer mehr Deutschland zu den Favoriten zählte, erfasste ein gewisser Optimismus eine notorisch skeptische Nation. Und das explodierte heute Nacht in etwas, was man sehr selten sieht seit dem Zweiten Weltkrieg: eine Welle deutschen Stolzes.“

„Argentinien ist Papst. Deutschland ist Weltmeister“, befand die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ („FAZ“) am Tag danach, und ergänzte: „Ein Wunder ist der wunderbare Erfolg von Rio nicht. Der Titel ist den Deutschen nicht in den Schoß gefallen. Diese Weltmeisterschaft ist das Ergebnis eines lange geplanten und akribisch angestrebten Erfolgs.“ An Wunder zu glauben, das wäre dann doch keine deutsche Tugend.

Gerald Heidegger, ORF.at

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