Utopien in Beton und Stahl
Frankreichs Fortschrittsoptimismus nach 1945 kennt einen markanten Kristallisationsort: das Viertel La Defense, das heute mit dem spektakulären Grande Arche auch an den Hang zum Gigantomanismus der späten Jahre Francois Mitterrands erinnert. Der Grundstein für das „Manhattan Frankreichs“ wurde schon Ende der 50er gelegt - mit einem Gebäude, das heute noch aufregend wirkt: dem Centre des Nouvelles Industries et Technologies (CNIT), das so etwas wie der Tempel französischer Ingenieurskunst sein sollte.
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Vergessen lässt es heute, dass es zu einer Zeit eröffnet wurde, da Frankreich in einer seiner schwersten politischen Krisen steckte. Charles de Gaulle war zurück auf dem Weg zur Macht. Und für die entstehende Fünfte Republik hatte man eher zufällig ein Monument gefunden.
Einer der Architekten des CNIT war Bernard Zehrfuss, ein französischer Architekt, der mittlerweile beinahe in Vergessenheit geraten ist. Ihm ist nun eine interessante Werkschau in der Pariser Cite de l’Architecture im Palais Chaillot (bis 31. Oktober) gewidmet. Der Blick auf Zehrfuss lohnt sich, steckt in seinem Leben doch so etwas wie eine französische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Flucht vor dem Krieg statt Weg nach Rom
1911 im nordfranzösischen Angers geboren, schlägt Zehrfuss eine frühe Karriere als Architekt ein, die abprubt vom Zweiten Weltkrieg unterbrochen wird. 1939 gewinnt er den Wettbewerb zum Bau des Stadions Charlety im Süden von Paris, das ihm eine Auszeichnung und ein Stipendium in Rom bringt. Doch statt nach Rom geht er in den Süden Frankreichs, verliebt sich dort in einer Künstlerkolonie in Consuela de Saint-Exupery, die sich statt für Abenteuer für den Verbleib an der Seite ihre Mannes entscheidet.
Als der depressive und von der französischen Luftwaffe längst ausgemusterte Antoine de Saint-Exupery im Sommer 1944 im Süden Frankreichs in eine Lockheed F-5 steigt und mysteriös in den Tod fliegt, ist Zehrfuss längst in Tunesien und versucht sich dort als Architekt im Dienste des Staats.
Die Öffnung zur Moderne
Seine Arbeit ist noch eher am traditionellen Architekturstil ausgerichtet (etwa bei der Errichtung der Villa des ersten tunesischen Präsidenten Habib Bourguiba), doch alles ändert sich, als er 1947 nach Frankreich zurückkehrt und bei seinen ersten Nachkriegsprojekten etwa in Flins an der Seine (Renault-Werk) und Tours (Usine Mame) zeigt, wohin es ihn zieht: zur Verbindung von Beton und Stahl.

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Markstein der Moderne: Bau des UNESCO-Sitzes in Paris
Im italienischen Architekten mit dem Hang zur großen Bauform, Pierluigi Nervi, findet er ein Gegenüber, mit dem er 1950 das Pariser UNESCO-Gebäude entwirft, das heute noch als Markstein für das Bauen im ersten Jahrzehnt nach dem Krieg gilt (und im Gegensatz zu anderen Gebäuden eine Form von Renovierung erhalten hat, welche die Handschrift des Originals nicht komplett ausradiert).
Fabriksgelände wird zum Manhattan Frankreichs
Mitte der 1950er Jahre ist Zehrfuss maßgeblicher Mitgestalter des bis dahin wichtigsten Projekts im heutigen Areal von La Defense im Westen von Paris. Am heutigen Ronde-Point de la Defense - damals das ehemalige Werksgelände des französischen Flugzeugbauers Zodiac -plant er gemeinsam mit Robert Cemalot, Jean de Mailly, Nicolas Esquillan und dem Metallkonstrukteur Jean Prouve das Centre des Nouvelles Industries et Technologies, das Kulturminister und Autor Andre Malraux bei der Eröffnung 1958 als ebenbürtig mit den großen französischen Kathedralen bezeichnen wird. Blickt man auf die Baustellenfotos, die bis Ende Oktober in der großen Schau im Pariser Architekturmuseum im Palais de Chaillot ausgesellt sind, dann lässt sich Malrauxs Bewertung mehr als deutlich nachvollziehen.

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Über 200 Meter Bogenweite: Das CNIT besteht eigentlich nur aus einer dreiteiligen Dachschalenkonstruktion
Ausgefeilte Konstruktion
Das Gebäude erzählt vor allem von der technischen Machbarkeit, überspannt man doch mit dem freitragenden, dreiteiligen Kuppeldach, das sich über eine Grundfläche von knapp 10.000 Quadratmetern erhebt, eine Weite von bis zu 217 Metern. Grundriss des Gebäudes ist ein gleichseitiges Dreieck, an dessen Ecken die Bögen des Daches ansetzen. Lange wurde, auch unter der Heranziehung von Nervi, an den Konstruktionsprinzipien dieses gewagten, sich selbst tragenden Daches experimentiert, das immerhin eine Kubatur von 900.000 Kubikmetern ohne eine Säule darunter beherbergt.

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Schnitte und Plan der Dachkonstruktion
Ein Hohlraum im Inneren des Daches mit einer Durchschnittshöhe von 1,80 Metern ist nicht nur für die statischen Eigenschaften entscheidend - auch für die Erhaltung des Daches bringt die innere Begehbarkeit der Betonschale, die sich auf bis zu 50 Meter erhebt, entscheidende Vorteile. Die Dicke des Betons der Schale ist mit sechs bzw. acht Zentimetern vergleichweise gering.
Die Eröffnung und die Krise der Vierten Republik
Als De Gaulle das Gebäude im September 1958 eröffnet, befindet sich Frankreich in seiner schwersten Phase in der Nachkriegszeit. Die Vierte Republik sollte nur noch wenige Wochen überdauern und De Gaulle wenige Wochen später als Präsident der Fünften Republik dastehen.
Fortan soll das CNIT so etwas wie eine dauerhafte Leistungsschau französischer Ingenieurskunst und französischen Selbstbewusstseins sein. Das Gebäude wird als Messehalle Grundstock für das neu entstehende Viertel La Defense, das man nach der bronzenen Skulptur von Louis-Ernest Barrias aus dem Jahr 1883, „La Defense de Paris“ zu Ehren der französischen Soldaten im deutsch-französischen Krieg 1870/71, benennt.

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Blick nach La Defense vom Arc de Triomphe
Zehrfuss wird weiter mitmischen bei dieser französischen Version von Manhattan, das ja hauptsächlich dem Kommerz und weniger dem Wohnen verschrieben war. Die Ära Mitterrand bringt die markantesten Akzente nach La Defense und schließt die Triumph-Achse Champs Elysees - Place Etoile - Avenue Charles de Gaulle auch historisch pikant mit einem Triumphbogen ab: Gebaut von einem Dänen, setzt sich Mitterrand mit dem Grande Arche selbst ein Denkmal, in das man nicht nur den kleineren Arc de Triomphe locker hineinstellen könnte. Mitterrand zählte im Jahr 1958 auch zu jenen Politikern aus dem linken Lager, die sich gegen die Rückkehr von De Gaulle ans „Pouvoir“ ausgesprochen hatten.

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Das CNIT heute: Kongresszentrum trifft Shoppingmall
Zehrfuss und die Ideologie der Satellitenvorstadt
Zehrfuss wird sich in den ersten Jahren der Ära De Gaulle in der Fünften Republik mit einigen Konzepten von Satellitenwohnsiedlungen hervortun, die mittlerweile alle als Problemzonen gelten, etwa sein monumentaler, 400 Meter langer Wohnsilo Le Haut-du-Lievre im ostfranzösischen Nancy. Mit seinen Bauwerken verteidigte Zehrfuss das Erbe Le Corbusiers ebenso wie den „International Style“. Der Wende zur Postmoderne, wie sie die Ära Mitterrand in den Satellitenstädten mit dem Postmodernismus eines Riccardo Boffil und neoklassizistischen Protzsozialbauten vollzieht, verschloss sich Zehrfuss.
Allerdings hat Zehrfuss sehr wohl Nachfolger, die seine Technikbegeisterung in anderen Ausformungen fortführen. Jean Nouvels frühe Gebäude wie das Institut du Monde Arabe und der nie verwirklichte, sich scheinbar im Himmel verlierende „Tour sans fin“ („Turm ohne Ende“), geplant neben dem Grande Arche de la Defense, wirken wie eine Fortführung der Vorstellungen von Zehrfuss. Überlebt hat so manchner Techniktraum freilich nur in der Fiktion: Die Renderings von La Defense in Wim Wenders’ „Bis ans Ende der Welt“ erzählen von den ungebauten Gebäuden, die man in Paris nie verwirklicht hat. Doch auch diese Zukunftsfiktion ist mittlerweile: Vergangenheit.
Der Abriss der Halle de Fontainebleau
Dass es die Architektur aus dem Umfeld Zehrfuss schwer hat zu überleben, zeigt sich an einigen Beispielen. Nicolas Esquillans Halle de Fontainebleau („Le Monde“) wurde im Vorjahr abgerissen. Lange hatte man dieses architektonische Kleinod der Moderne verfallen lassen und zu einem lieblosen Parkhaus verwandelt. Aber solche Architekturschicksale dieser Epoche sind bekanntlich nicht nur aus Frankreich überliefert.
Gerald Heidegger, ORF.at
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