Boom-Region plant Unabhängigkeit
Die Bevölkerung der Kurden ist seit dem Ersten Weltkrieg auf vier Länder aufgeteilt: Syrien, Irak, Iran und Türkei. Die Bildung eines eigenen Staates scheiterte bisher - doch nun stehen die Chancen dank der politischen Vorgänge im Irak und der Türkei so gut wie schon lange nicht mehr. Die irakischen Kurden wagen - nach ukrainischem Vorbild - den ersten Schritt mit einem Referendum.
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Das gerade neu gebildete Parlament in der irakischen Hauptstadt Bagdad hat aber andere Sorgen. Dschihadisten bringen seit Wochen eine irakische Stadt nach der anderen unter ihre Kontrolle, und die Armee kann ihnen offenbar nichts entgegensetzen. Nun kommen auch aus dem Norden schlechte Nachrichten: Die Kurden - bisher loyale Unterstützer der irakischen Zentralregierung - wollen die Gunst der Stunde nutzen und drängen auf Unabhängigkeit.
Referendum in einigen Monaten
Der Präsident der autonomen Kurdenregion, Massud Barsani, kündigte am Dienstag via den britischen TV-Sender BBC eine Volksabstimmung über ein eigenes Staatsgebiet an. Der Irak sei in Wirklichkeit bereits geteilt, erklärte Barsani in Anspielung auf das von der Terrororganisation Islamischer Staat in Irak und Syrien (ISIS) ausgerufene „Kalifat“ in Teilen des Iraks und Syriens.

APA/ORF.at
Die Kurdengebiete
Barsani sagte: „Wir werden die Entscheidung unseres Volkes anerkennen und dadurch gebunden sein und hoffen, dass andere das ebenfalls tun werden.“ Ein Datum für das Referendum könne er nicht nennen, das müsse das Parlament entscheiden. Die Abstimmung in den irakischen Kurdengebieten werde aber binnen Monaten stattfinden. Davor müsse eine unabhängige Wahlbehörde eingerichtet werden.
100 Jahre langer Kampf um Freiheit
Damit ist ein unabhängiges Kurdistan erstmals seit einem Jahrhundert zumindest auf irakischem Gebiet in greifbare Nähe gerückt. Durch den Vertrag von Lausanne nach dem Ersten Weltkrieg wurde das kurdische Volk überwiegend auf vier Staaten (Syrien, Irak, Iran, Türkei) aufgeteilt, wobei der größte Teil auf die Türkei fiel. Während die Kurden im Irak seit den 70er Jahren eine autonome Region verwalten und nach den Irak-Kriegen und dem Sturz von Diktator Saddam Hussein auch per Verfassung ihre Souveränität zugesichert bekamen, wurden sie unter dem türkischen Staatsführer Mustafa Kemal Atatürk nie als Minderheit anerkannt.

AP Photo/Turkish Intelligence Service
Anfang 1999 wurde PKK-Chef Abdullah Öcalan in Kenia festgenommen und in die Türkei gebracht. Eine Todesstrafe wegen Hochverrats und Terrorismus wurde in lebenslange Haft umgewandelt.
Die kurdische Sprache war in der Türkei per Gesetz verboten, kurdische Namen wurden ersetzt und Kurdischunterricht untersagt. Die Unterdrückung gipfelte 1984 in den Kurdenaufständen, bei denen geschätzte 40.000 Menschen ums Leben kamen. Erst mit der Verhaftung des PKK-Chefs Abdullah Öcalan wurde eine Waffenruhe erreicht. Mit Beginn der EU-Beitrittsgespräche verbessert sich die Situation der rund 14 Millionen türkischen Kurden etwas. Doch erst in den vergangenen Monaten nahm der Friedensprozess richtig Fahrt auf.
Erdogan bei Kurden auf Stimmenfang
Offiziell lehnt die islamisch-konservative Regierung in Ankara einen eigenen Kurdenstaat entschieden ab, doch die politischen Entwicklungen spielen den Kurden derzeit in die Hände. So steht der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan kurz vor seinem nächsten großen Karrieresprung. Am 10. August tritt er bei der Präsidentenwahl an und braucht dafür jede Stimme - auch und vor allem die der Kurden. Als besonderes „Wahlzuckerl“ stellte er vor wenigen Tagen ein Siebenpunktepaket vor, das unter anderem verbesserte Rückkehrbedingungen für ehemalige PKK-Mitglieder vorsieht.
Und auch zu den benachbarten Kurden im Nordirak hat sich das türkische Verhältnis mittlerweile geändert. Längst werden sie nicht mehr als terroristische Bedrohung wahrgenommen, sondern als wichtige Handels- und Geschäftspartner. Die autonome Kurdenregion entwickelte sich dank der vergleichsweise guten Sicherheitslage zu einer Boom-Region und ist heute einer der wichtigsten Abnehmer für türkische Exporte.

Reuters/Ahmed Jadallah
Erbil ist ein Schmelztiegel verschiedenster Religionen
Viele ausländische Unternehmen unterhalten Repräsentanzen, die AUA fliegt die Hauptstadt der autonomen Provinzen, Erbil, täglich an, Hochhäuser und Hotels sind aus dem Boden geschossen, und den Weg vom Flughafen Richtung Stadt säumen riesige Autohäuser, Wahrzeichen des neu gewonnenen Status. Doch der größte Trumpf der Kurden ist die Ölstadt Kirkuk, die sie nach der Vertreibung der irakischen Armee durch ISIS-Kämpfer in den vergangenen Wochen unter ihre Kontrolle bekommen haben.
Früher Alptraum, heute Realität
Sprudelnde Ölquellen sind für Ankara von großem Interesse. So hofft die Türkei auf stabile Öleinfuhren aus dem Kurdengebiet, um es auf den Weltmärkten weiterverkaufen zu können. Erst vor wenigen Tagen wurde eine Million Barrel Rohöl aus dem Nordirak, das per Pipeline in die Türkei geschickt worden war, auf einen Tanker gepumpt, wie die Deutsche Welle (DW) berichtete. Die Vorstellung eines unabhängigen Kurdenstaates im Nordirak habe angesichts dieser Entwicklung für Ankara viel von ihrem Schrecken verloren, schrieb der Journalist Hasan Cemal in einem Beitrag für das Nachrichtenportal T24. Früher sei dieses Kurdistan ein Alptraum für die Türkei gewesen, heute sei es die Realität.
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