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Sprache als Subkultur

Fluchen könne viele. Doch die Russen machten aus ihrer Vulgärsprache, dem Mat, ein eigenes klar abgegrenztes sprachliches Territorium. Jahrhundertelang tabuisiert entwickelte sich der russische Mat zu einer farbenfrohen Parallelwelt, die nun auch die Wissenschaft beschäftigt.

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Das Verhältnis der Russen zum Mat ist ohne Zweifel ein ambivalentes. Das zeigt sich bereits bei der Frage, wo und wie er denn entstanden ist. Einer Legende nach soll Peter der Große, Lichtfigur und erster Zar Russlands, selbst die Vulgärsprache geschaffen haben. Das ist freilich ebenso unwahrscheinlich wie die Überzeugung, dass die Mongolen Obszönitäten in die russische Sprache „eingeschleppt“ hätten. Zu genau lässt sich sprachwissenschaftlich nachweisen, wie sich die Grundwörter des Mat aus dem Urslawischen heraus entwickelten.

Schmutzige Sexualität

Gerade einmal vier Wörter bilden die Grundlage der Vulgärsprache. Männliches (hui) und weibliches (pisda) Geschlechtsorgan, Prostituierte (bljad) und Geschlechtsverkehr (jebot) haben ihre Heimat alle im Bereich der Sexualität und gelten damit als per se schmutzig.

Denn anders als etwa im Deutschen, das vor allem mit Fäkalien seine Probleme hat, ist im Russischen die Sexualität tabu. Neutrale Alltagswörter für sexuelle Handlungen oder Geschlechtsteile fehlten dem offiziellen Russischen völlig, schreibt der russische Autor Wiktor Jerofejew in einem Artikel für den „New Yorker“. Die gesellschaftskonformen Wörter seien entweder beschönigend oder dem medizinischen Latein entlehnt.

Ein unter Sprachwissenschaftlern beliebter Erklärungsversuch führt diese Ablehnung auf die enge Verbindung zwischen sexueller und vorchristlicher ritueller Sprache zurück. Schriftliche Dokumente, die diese These stützen, gibt es freilich keine. „Niemand kann solch eine rituelle Bedeutung wirklich mit Sicherheit nachweisen“, sagt Fedor Poljakov, Leiter des Instituts für Slawistik an der Uni Wien gegenüber ORF.at.

Farbenfrohe Parallelsprache

Klar ist jedoch, dass der Mat spätestens seit der Zarenzeit tabuisiert und an den Rand gedrängt wurde; und dass ihn erst diese Marginalisierung, die ihren Höhepunkt in der Sowjetzeit erreichte, zu dem machte, was er heute ist - eine Sprache neben der Sprache.

Durch Vor- und Nachsilben sowie die Verbindung mit weiteren Wörtern lässt sich aus den vier Grundwörtern eine Hundertschaft an neuen Ausdrücken kreieren. Diese müssen gar nicht zwingend Schimpfwörter sein, sondern können ebenso Überraschung und Staunen ausdrücken wie als Umschreibungen für alltägliche Begriffe fungieren - oder ganz ohne eigene Bedeutung als Füllwörter in einen Satz eingebaut werden.

Fixer Platz in der Gesellschaft

Während die Herrschenden dafür sorgten, dass auch nicht ein Wort der Vulgärsprache seinen Weg in die offizielle Literatur fand, prägte der Mat in den sowjetischen Arbeitslagern und Gefängnissen die alltägliche Sprache - und hatte auch unter den russischen Arbeitern seinen fixen Platz.

Ein Witz aus der Sowjetzeit erzählt von der Inspektion einer Firma: Alles ist in Ordnung, das Plansoll erfüllt. Nur eines haben die Genossen auszusetzen: Die Arbeiter verwenden zu viele obszöne Wörter. Die Verwaltung verspricht Besserung. Doch beim nächsten Besuch der Inspektoren ist die Produktion im Betrieb beinahe zum Erliegen gekommen. Der Grund: Die Arbeiter bezeichneten ihr gesamtes Werkzeug mit Mat-Ausdrücken und wissen nun nicht mehr, wie sie miteinander kommunizieren sollen.

Der obszöne Puschkin

Was viele Russen bis zum Ende der Sowjetunion freilich nicht wussten: Auch den großen russischen Klassikern war die Vulgärsprache nicht unbekannt. Nach der Perestroika begannen Verlage bisher der Zensur zum Opfer gefallene Bücher wieder aufzulegen. In den Gedichten und auch in den Briefen von Puschkin, Lermontow und Tschechow etwa auf Mat zu stoßen, musste für russische Leser dabei einer kleinen Sensation gleichkommen.

Ölgemälde des russischen Nationaldichters Alexander Sergejewitsch Puschkin

Public Domain

Auch Puschkin konnte sich an Deftigerem erfreuen

Mag sein, dass ein Großteil jener Werke, wie etwa Puschkins Gedicht von 40 Prinzessinnen und ihren fehlenden Geschlechtsteilen, nie für die Veröffentlichung bestimmt war. Einen Eindruck davon, dass mit der angeblichen Gossensprache bereits vor 200 Jahren literarisch gespielt werden konnte, geben diese Werke allemal.

Eigener Forschungszweig

Mittlerweile widmet sich ein ganzer Forschungszweig dem russischen Mat. Lexika und Wörterbücher geben Einblick in die Entstehung und Bedeutung von Wörtern und Redewendungen und lassen erkennen, dass die russische Vulgärsprache weit mehr sein konnte, als gewöhnliches Fluchen. Mit einer Art barockem Ensemble vergleicht etwa Slawist Poljakov jene regelrechten Fluchketten, die am Hof Peter des Großen entstanden sein sollen: „Das ist nicht gleichzusetzen mit irgendeiner Gosse.“

Es ist neben aller Tabuisierung und Obszönität wohl auch diese Ambivalenz, die den Reiz des Mat ausmacht; dass er den einfachen Schichten genauso gehört wie den gebildeten Kreisen. Und diese Vielfältigkeit wird auch in Zukunft dafür sorgen, dass er Wissenschaftler und gewöhnliche Menschen gleichermaßen faszinieren wird - allen Fluchverboten zum Trotz.

Martin Steinmüller, ORF.at

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