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Lage für Irak „lebensbedrohlich“

Die Offensive der Gruppe Islamischer Staat im Irak und in Syrien (ISIS) lähmt den Irak zusehends auch wirtschaftlich. So wurde am Dienstag offenbar auch die größte Ölraffinerie des Landes in Baidschi geschlossen. Alle Ausländer seien aus der Anlage gebracht worden, berichteten Mitarbeiter. Irakische Mitarbeiter seien noch dort und würden die Raffinerie mit Regierungstruppen bewachen.

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ISIS war nach der Eroberung der Millionenstadt Mossul auf Baidschi vorgerückt und hatte dort Stellungen außerhalb der Raffinerie bezogen. Wegen der zunehmenden Kämpfe im Irak und der Bedrohung der Ölversorgung dadurch stieg der Ölpreis auf den internationalen Märkten deutlich. Am Dienstag wurde auch bekannt, dass unter Patronanz des deutschen Außenministeriums in einer Kommandoaktion 50 ausländische Siemens-Mitarbeiter, darunter ein Österreicher, von einer Kraftwerksbaustelle in Baidschi ausgeflogen wurden.

Extremisten kommen Bagdad immer näher

Die sunnitischen Extremisten haben innerhalb einer Woche vom Norden kommend weite Teile des Landes de facto ohne nennenswerte Gegenwehr überrannt. In der Nacht auf Dienstag drangen ISIS-Kämpfer in das 60 Kilometer nordöstlich von der Hauptstadt Bagdad gelegene Baakuba ein und übernahmen vorübergehend die Kontrolle über mehrere Viertel. Neben der wachsenden Gefahr für Bagdad sorgen sich nun auch in den Industriezentren des Landes im Süden tätige westliche Konzerne um ihre dortigen Mitarbeiter. Auch die UNO hat bereits damit begonnen, Teile des Personals aus dem Land zu bringen.

Ebenso stehen die jüngsten US-Truppenbewegungen im Zeichen möglicher Evakuierungsaktionen. Zuletzt erreichte etwa das Transportschiff „USS Mesa Verde“ den Persischen Golf. An Bord sind 550 Marineinfanteristen sowie mehrere Spezialflugzeuge vom Typ Osprey, die mit ihren Rotoren wie ein Helikopter starten und landen können. Am Dienstag gab das Weiße Haus zudem die Entsendung einer 275 Mann starken Sondereinheit des US-Militärs bekannt, die US-Bürger schützen solle, aber sich auch an den Kämpfen beteiligen könne.

Bisher undenkbare Allianzen

Eine Woche nach Beginn der ISIS-Offensive formiert sich aber zumindest Gegenwehr, und das in bisher undenkbaren Allianzen: Inzwischen haben sich kurdische und irakische Streitkräfte neu formiert und leisten zusammen mit zahlreichen Freiwilligen Gegenwehr. Ein Aufruf des mächtigen schiitischen Großajatollahs Ali al-Sistani soll - zum Unterschied von zuvor erfolgten entsprechenden Aufrufen durch Regierungschef Nuri al-Maliki - Massen zum Dienst an der Waffe an der Seite der regulären Streitkräfte mobilisiert haben.

Zivilisten werden rekrutiert und  fahren auf Lkws in Bagdad

AP/Khalid Mohammed

Freiwillige Rekruten in Bagdad

Der Irak-Konflikt führt auch international einstige Erzfeinde zusammen. Nach den USA bestätigte am Dienstag auch der Iran Verhandlungen mit den USA in Wien über die Krise im Irak. „Ja, wir haben auch die Brutalitäten der ISIS im Irak besprochen“, sagte der iranische Außenminister Mohammed Dschawad Sarif. Am Rande der Atomverhandlungen in Wien traf Sarif US-Vizeaußenminister William Burns. Offiziell lehnen sowohl der Iran als auch die USA Militärhilfe für den Irak ab, angeblich dürfte jedoch genau darüber beraten worden sein.

Obama berät mit Kongressspitzen

US-Präsident Barack Obama berät am Mittwoch mit führenden Demokraten und Republikanern aus dem Kongress über den Vormarsch der radikalen Islamisten. Obama spreche mit Spitzenpolitikern aus Senat und Repräsentantenhaus über eine Unterstützung der Regierung in Bagdad, hieß es am Dienstag aus Kreisen in Washington.

Den Angaben zufolge empfängt der Präsident im Weißen Haus den republikanischen Vorsitzenden des Repräsentantenhauses, John Boehner, und die oberste Demokratin der Kongresskammer, Nancy Pelosi. Außerdem sollen der Mehrheitsführer der Demokraten im Senat, Harry Reid, und der führende republikanische Senator Mitch McConnell an dem für 21.00 Uhr (MESZ) angesetzten Gespräch teilnehmen. Ein Mitarbeiter McConnells sagte, der Senator hoffe, dass Obama bei dem Treffen „eine Strategie und einen Plan“ für das weitere Vorgehen im Irak vorlege.

5.000 Freiwillige meldeten sich im Iran

Mehr als 5.000 Iraner sollen sich im Internet als Freiwillige zum Kampf im Nachbarland Irak gemeldet haben. Wie die iranische Website Tabnak berichtete, folgten sie einem Aufruf der Organisation Volkshauptquartier zur Verteidigung schiitischer Heiligtümer gegen Angriffe sunnitischer Dschihadisten. Die in Einheiten zusammengefassten Freiwilligen sollen nun auf den Befehl des iranischen geistlichen Oberhaupts Ajatollah Ali Chamenei zum Einsatz im Irak warten.

Warnung vor Flächenbrand in gesamter Region

Die beiden einst verfeindeten Länder Iran und Irak sind die einzigen, die (neben dem kleinen Bahrain) von der schiitischen Glaubensrichtung des Islam dominiert sind. Die jüngste Eskalation dürfte allerdings die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten im Irak weiter vorantreiben. Nickolay Mladenov, der UNO-Sondergesandte für den Irak, sieht die derzeitige Lage im Irak bereits als „lebensbedrohlich“ für das Land an. Es bestehe „ernste Gefahr“ für die gesamte Region, so Mladenov am Dienstag.

Die Nachbarstaaten müssten erkennen, dass zwar die Iraker selbst die Krise lösen müssten, sie das aber nicht „ohne die internationale Gemeinschaft“ und eine „konstruktive Kooperation" in der Region“ erreichen könnten, warnte Mladenov. Der Leiter der unabhängigen UNO-Syrien-Untersuchungskommission, Paulo Sergio Pinheiro, warnte am Dienstag überhaupt vor einem großflächigen Bürgerkrieg in der gesamten Region. „Ein regionaler Krieg im Nahen Osten rückt immer näher“, sagte Pinheiro vor dem UNO-Menschenrechtsrat in Genf.

Schiiten und Sunniten rufen zur Einheit auf

Unterdessen riefen im Irak hochrangige Vertreter der beiden rivalisierenden Glaubensrichtungen zur Einheit des Landes auf. Nach einem Treffen hinter verschlossenen Türen forderten Schiiten und Sunniten am Dienstag gemeinsam den Schutz von Souveränität und Würde des irakischen Staates. Konflikte zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen müssten beigelegt werden, sagte der ehemalige Ministerpräsident Ibrahim al-Dschafaari. Unter den Anwesenden war auch der ehemalige Präsident des unlängst aufgelösten Parlaments, der Sunnit Osama al-Nudschaifi, und der schiitische Regierungschef Maliki.

Ban kritisiert Maliki

UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon gab der Regierung in Bagdad am Dienstag indirekt eine Mitschuld an der Eskalation der Gewalt im Irak gegeben. Er habe Maliki „dringend dazu geraten, einen umfassenden Dialog zur Lösung des Konflikts aufzunehmen“, sagte Ban am Dienstag bei einer Pressekonferenz in Genf. Eine Lösung sei nur unter Einbeziehung aller Volksgruppen möglich. Es müsse „gewährleistet sein, dass alle Menschen friedlich zusammenleben können, egal ob sie Sunniten, Schiiten oder Kurden sind“.

Scharf verurteilte der UNO-Generalsekretär Massenhinrichtungen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen durch ISIS. Vergeltungsschläge gegen bestimmte Volks- oder Religionsgruppen müssten unterbunden werden. „Es gibt ein konkretes Risiko wachsender konfessionsgebundener Gewalt massiven Ausmaßes, im Irak und jenseits seiner Grenzen“, warnte auch Ban. Maliki warf unterdessen der Führung von Saudi-Arabien vor, ISIS finanziell maßgeblich zu unterstützen.

Maliki entließ Armeekommandanten

Angesichts der anhaltenden ISIS-Offensive entließ Maliki am Dienstag mehrere Armeekommandanten. Seines Amtes enthoben wurde nach amtlichen Angaben unter anderen der Kommandant für die nördliche Provinz Ninive. Diese war vor wenigen Tagen als Erste in die Hände der Aufständischen gefallen, die daraufhin ihren Vormarsch Richtung Süden auf die Hauptstadt Bagdad fortsetzten.

Bei einem Bombenanschlag in Bagdad wurden am Dienstag mindestens elf Menschen getötet und mehr als 20 weitere verletzt. Nach Angaben von Ärzten und Sicherheitskräften explodierte der in einem Fahrzeug versteckte Sprengsatz auf einem Markt im mehrheitlich schiitischen Stadtteil Sadr City im Norden der irakischen Hauptstadt. Bei fünf weiteren Bombenanschlägen in Bagdad wurden sechs Menschen getötet und 14 weitere verletzt. Beim Beschuss der Stadt Falludscha westlich von Bagdad starben vier Menschen.

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