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Nächste Zerreißprobe für den Irak

Etwas mehr als zehn Jahre nach dem Sturz von Saddam Hussein und den darauf folgenden Jahren des Aufstands und Terrors droht dem Irak ein Bürgerkrieg wie im benachbarten Syrien: Die ohnehin geschwächte Regierung in Bagdad muss mit Schrecken in den Nordirak sehen, wo die Terrormiliz Islamischer Staat im Irak und in Syrien (ISIS) mit Mossul die zweitgrößte Stadt des Landes überrannt hat. Doch auch für ISIS selbst ist die Offensive ein kritischer Wendepunkt.

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Ziel von ISIS ist die Schaffung eines islamischen Gottesstaates, der über den Irak bis nach Syrien reicht. Die sunnitische Organisation kämpft daher nicht nur im Irak gegen die schiitisch geführte Regierung, sondern auch in Syrien gegen Präsident Baschar al-Assad, der den schiitisch geprägten Alawiten angehört. In Syrien war die Miliz ebenfalls recht erfolgreich, kämpfte aber auch gegen moderatere Rebellengruppen.

Irak statt Syrien?

Manche Beobachter meinen, der Druck auf ISIS sei in Syrien größer geworden, darum verschiebe man die Hauptaktivtäten in den Irak. Andere vermuten das genaue Gegenteil: Der syrische Bürgerkrieg sei quasi nur Training und man sitze dort fest genug im Sattel, um sich nun auf den Irak konzentrieren zu können.

Schon seit einigen Monaten kontrolliert die Gruppe Falludscha und andere Teile der irakischen Provinz Anbar. Auf ihrem Vormarsch nach Bagdad brachten die ISIS-Kämpfer bis Mittwoch große Teile der Regionen Ninive und Salaheddin unter ihre Kontrolle, nach Mossul fiel auch Tikrit.

Strategisch wichtiges Mossul

Mossul ist für die Gruppe in mehrfacher Hinsicht strategisch ein wichtiger Punkt. Die Stadt diente dschihadistischen Gruppen schon immer als Finanzierungsort und logistische Drehscheibe - auch für die Nachschublieferungen nach Syrien. Und Mossul gilt als politische und wirtschaftliche Hauptstadt der Sunniten im Irak. Insofern erhofft sich ISIS wohl Unterstützung gegen die von Schiiten dominierte Regierung in Bagdad.

Gegenmodell zum Staat

Diese Änderung der Taktik zeichnet sich schon länger ab: Die Website al-Monitor berichtete schon vor Monaten, dass die Gruppe ihren Einflussbereich ausdehnen und sich dabei den Frust der Sunniten zunutze machen wolle. Zudem habe die Gruppe in den von ihr kontrollierten Regionen auch eine Art Staatsapparat etabliert, sagte Douglas Ollivant von der New America Foundation der „Washington Post“.

Sie würden Gerichte, Schulen und andere Einrichtungen betreiben. In Rakka in Syrien sei sogar eine Art Lebensmittelbehörde auf die Beine gestellt worden. Die Regierungen in Syrien und Irak werden also nicht nur mit der Waffe bekämpft, man stellt ihnen auch ein Gegenmodell entgegen.

Streng islamisches Recht

Andererseits: In den von ihnen beherrschten Gebieten gilt streng islamisches Recht. Das öffentliche Spielen von Musik ist verboten. Frauen müssen außerhalb ihrer Wohnungen den Nikab tragen. Der Verkauf von Zigaretten und Wasserpfeifen ist verboten. Wer den Regeln zuwiderhandelt, wird nach den scharfen Bestimmungen der Scharia bestraft. Öffentliche Hinrichtungen stehen an der Tagesordnung.

ISIS war aus einer 2003 gegründeten Terrorgruppe entstanden. Auslöser war der Einmarsch einer von den USA geführten multinationalen Truppe, die das Regime von Diktator Saddam Hussein stürzte. Der erste bekannte Anführer war der für seine Grausamkeit berüchtigte Jordanier Abu Mussab al-Sarkawi. Nach dessen Tod verlor die Terrorgruppe an Macht und Einfluss. Das änderte sich 2013. Als der Streit zwischen der von Schiiten dominierten Regierung und den sunnitischen Parteien eskalierte, erhielt sie wieder mehr Zulauf.

Anführer ein Phantom

Zudem benutzten die Terroristen den syrischen Bürgerkrieg, um neue Kämpfer zu rekrutieren und ihre Macht auf einige Gebiete in Syrien auszudehnen. Vor allem ausländische Dschihadisten sind in ihren Reihen zu finden. Ihr Anführer Abu Bakr al-Baghdadi benannte die Gruppe um in Islamischer Staat im Irak und in Syrien. Im Jänner hatten die irakischen Behörden ein Foto veröffentlicht, das angeblich Baghdadi zeigen soll. Viel mehr ist über ihn allerdings nicht bekannt, selbst unter Vertrauten soll er sich nur mit verhülltem Gesicht zeigen. Baghdadi gilt als gewiefter Feldherr und Kriegstaktiker und zieht damit vor allem kampfbereite Jungdschihadisten - auch aus dem Westen - an.

Befehle von Al-Kaida ignoriert

Und er brach auch einen Konflikt mit Al-Kaida vom Zaun, indem er sich mehrfach den Direktiven der Führung unter dem Ägypter Aiman al-Sawahiri widersetzte. So hatte Sawahiri bereits im November angeordnet, dass sich ISIS aus Syrien zurückziehen soll. Zugleich erklärte er die Al-Nusra-Front, eine weitere Al-Kaida nahestehende Gruppe, zum alleinigen Ableger des Terrornetzwerks in Syrien. Doch Baghdadi ignorierte den Befehl einfach. Er gehorche „nur Gott“, sagte er.

Bisher hat Al-Kaida mit der Methode, lokale Terrorgruppen als „Filialen“ zu führen und auf diese Einfluss zu nehmen, erfolgreich operiert. ISIS ist nun die erste Gruppe, die sich davon losgesagt hat. Und das untergräbt nicht nur die Autorität von Sawahiri. Mit den Entwicklungen der vergangenen Tage hat sich ISIS für viele Experten zur einflussreichsten Islamistengruppe der Region gemacht und Al-Kaida vom Thron gestoßen.

Dabei ist die Zahl der ISIS-Kämpfer vergleichsweise gering. Die Schätzungen gehen weit auseinander, von 8.000 bis 15.000 Mann ist die Rede, davon sollen sich 3.000 bis 6.000 im Irak befinden, der Rest in Syrien.

Herausforderung für Bagdad

Schafft es ISIS, die nördlichen Regionen im Irak dauerhaft zu kontrollieren, würde ein solches Kalifat Schockwellen für den ganzen Großraum auslösen, schreibt Michael Knights vom Institute for Near East Policy in Washington in einer BBC-Analyse. Der Irak befinde sich damit nun am Scheideweg. Und das wisse man auch in Bagdad.

Regierungschef Nuri al-Maliki muss die Herausforderung von ISIS annehmen. Zwar zählt seine Armee mehr als 900.000 Mann, das heißt aber gar nichts: Mossul wurde von der Terrormilz in wenigen Tagen überrannt, und das, obwohl die Sicherheitskräfte der Stadt laut BBC zahlenmäßig 15-fach überlegen waren. Der ohnehin schon demotivierten Armee hat das wohl den nächsten großen Schlag für die Moral verpasst.

Rivalen als Partner?

Insofern ist Maliki nun auf alte Rivalen angewiesen: auf die Kurden im Nordirak. Bagdad und die Autonomieregion streiten seit Jahren wegen Gebietsansprüchen der Kurden doch nun könnte sie der gemeinsame Feind einen. Die Kurden haben freilich großes Interesse, ihr einigermaßen friedliches und florierendes Gebiet vor ISIS, die bereits quasi vor ihrer Haustür sitzt, zu schützen. Und ihre Milizen und Sicherheitskräfte, die „Peschmerga“, sind kampferprobt genug, es mit den Dschihadisten aufzunehmen.

Vorstoß als strategischer Fehler?

Einigt sich die Regierung mit den Kurden, dann könnte das nicht nur Bewegung in ein jahrelanges politisches Patt bringen, sondern auch den ISIS-Vorstoß als schweren strategischen Fehler in die Geschichte eingehen lassen. Beobachter und Experten meinen schon jetzt, dass die Offensive möglicherweise ein Akt der grenzenlosen Selbstüberschätzung sei.

Für ISIS könnten es viel zu viele Fronten werden. In Syrien mit vielen versprengten Kleinstgruppen funktioniere das vielleicht. Im Irak kann man aber einer mit Kurden verbündeten Armee nicht so viel entgegensetzen. Und spätestens nach der Geiselnahme im türkischen Konsulat in Mossul hat man sich auch die Türkei zum Feind gemacht, die wohl nicht untätig bleiben wird. Fix scheint jedenfalls, dass in den nächsten Wochen die Weichen für die Zukunft der gesamten Region gestellt werden.

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