Jubel, Trubel, Heiserkeit
Ihr Imagewechsel hat Miley Cyrus wohl zum meistdiskutierten Popact der vergangenen Monate gemacht. Am Dienstag galt es in der gut gefüllten, wenn auch nicht ausverkauften Wiener Stadthalle zu prüfen, ob der Hype irgendwie gerechtfertigt ist. Geht man nach den ersten paar Minuten Bühnenshow, gibt es ein klares Ja. Knapp zwei Stunden später fällt das Urteil anders aus.
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Es war ein später Beginn, aber irgendwie eindrucksvoll. Eine Riesenprojektion ihres Gesichts öffnet den Mund, heraus kommt eine Rutschenzunge, auf der Cyrus unter viel Geschrei auf die Bühne gleitet. Von sich selbst ausgespeit geht es rund - mit ein paar Tänzern im Ganzkörpertieranzug, und einigen Tänzerinnen, davon eine sehr kleinwüchsig und eine andere, sagen wir, sehr großwüchsig. Letzterer versohlt Cyrus, wieso auch immer, dann den Hintern.

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Winke, winke aus dem eigenen Mund
Hat sich dabei jemand etwas gedacht?
Das ganze Bild wird noch um einiges bizarrer, wenn man begreift, dass hier im Wesentlichen das Phasenmodell Sigmund Freuds zur frühkindlichen Sexualität (oral, anal, egal usw.) in relativ richtiger Reihenfolge choreographisch nachgestellt wurde.
Gut, Phase drei nach Freud sollte erst vor dem Zugabenblock folgen, als Cyrus auf einem überdimensionalen Hotdog von der Bühne schwebt. Und das mit dem Sich-selbst-Befummeln kommt schon bei Song drei. Wie auch immer: Einen gewollten volksbildnerischen Akt zu vermuten würde Frau Cyrus und ihrem Team wohl zu unverdienter akademischer Ehre gereichen.

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Expliziter wurde es nicht mehr. Total zufällig war es der letzte Song, bei dem die Presse fotografieren durfte.
Mundduschen für die ersten Reihen
Nach den ersten paar Songs legte sich auch die Aufgeregtheit im Publikum merklich. Klar wurde am Ende der Songs ordentlich gekreischt, ansonsten war ziemliche Funkstille, aber nicht Mobilfunkstille, schließlich mussten die geschossenen Handyfotos auch einmal gepostet werden.
Auch auf der Bühne plätscherte es dahin. Die Highlights waren auch flüssig, Mundduschen für die Fans in den ersten Reihen, die Cyrus mit dem Inhalt ihrer Wasserflasche anspuckte. Großer Jubel. Großes Hüftenschwingen war dagegen abgesehen von der vordersten Front anfangs Fehlanzeige.
Krank auf der Bühne
Cyrus sprach zwar einiges, das ging aber im Hallenhall und ihrem Südstaatengebrabbel ziemlich unter. Angekommen sind das Wort „Fucking“ und dass sie eigentlich krank und ziemlich heiser auf der Bühne stehe. Nach einer guten Stunde drohte die Show vollends zu kippen. Cyrus tauchte dann plötzlich am anderen Ende der Stehplätze auf und gab unter anderem eine Coverversion von „Jolene“ und eine wirklich verblasene von OutKasts „Hey Ya!“ zum nicht wirklich Besten. Die Leinwandkameras offenbarten da übrigens auch einen Teleprompter als Texthilfe – Karaoke im Megastarstatus.
Karriere in die Wiege gelegt
Cyrus wurde die Karriere praktisch in die Wiege gelegt. Patentante ist die Urmutter der US-Countrymusic, Dolly Parton, und auch Papa Billy Ray ist erfolgreicher Country-Sänger. Der schaffte 1992 trotz seiner damaligen Frisur mit „Achy Breaky Heart“ auch hierzulande einen Hit. Und er sorgte spät, aber doch dafür, dass die Nummer nicht noch heute der furchtbarste Song der Welt ist: Mit dem Rapper Buck 22, dem Sohn von Soul-Oma Dionne Warwick, nahm er heuer eine Hip-Hop-Version seines Hits auf.
Im Video wurden die beiden von jungen Damen begleitet, die mit Miley nicht nur das Alter, sondern auch ihre Vergesslichkeit beim morgendlichen Anziehen teilen. Insofern ist es ein bisschen verwunderlich, dass die 21-Jährige ihrem Vater erst jetzt Fernsehverbot erteilt hat: Schauen darf er schon noch, Interviews geben eher nicht.
Kindliche Großverdienerin
Jedenfalls wollte die kleine Miley, so die Legende, schon mit neun Jahren Schauspielerin werden. Nach ersten kleineren Rollen zog sie 2006 das große Los und wurde Hauptdarstellerin der Kinderserie „Hannah Montana“, ein Schulmädchen, das ein Doppelleben als Popstar führt. Die Serie des familienfreundlichen Disney-Konzerns wurde zum Superhit, und Miley konnte praktischerweise damit auch ihre Gesangskarriere starten. Es folgten Kinofilme und weitere Alben.
Ein Superstar war geboren, dem aber minderjährig die wirklich schönen Dinge des Lebens (z. B. wählen gehen) trotz eines Jahreseinkommens im gehobenen zweistelligen Millionen-Dollar-Bereich verwehrt blieben. Allmählich wurde versucht, sie vom Image des kreuzbraven Mädchens ein bisschen wegzuführen, mit nur ein wenig Haut sollte das Album „Can’t Be Tamed“ 2010 aber noch nicht zum ganz großen Erfolg werden.
Der Drahtzieher im Hintergrund
2012 trennte sie sich von ihrem Manager, und Larry Rudolph trat an dessen Stelle. Rudolph ist mit seiner Reign Deer Enterprise Spezialist für genau eines - die Vermarktung ehemaliger Kinderstars. Und sein Konzept ist einfach: Sex. Christina Aguilera verlieh er mit „Dirrty“ ein neues Image, vor allem aber wurde er als Manager von Britney Spears bekannt. Dem Kinderstar aus dem Micky-Maus-Club verpasste er zunächst eine Schulmädchenuniform und später das Domina-Lederoutfit. Der Erfolg war enorm.

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„Put your money where your mouth is“, sang einmal eine britische Band. Die Pose von Cyrus ist nur bedingt ironisch gemeint.
Eine Weile geht das gut, bis der Markt nach neuen Gesichtern und Körpern schreit. Und ist das Pferdchen kaputt, sucht man sich ein neues. Immerhin: Rudolph eilt der Ruf voraus, seine Klienten - siehe Spears - eigenhändig von den Vorzügen von Rehakliniken zu überzeugen, bevor ganz was Böses passiert. Ja, Pop war schon immer ein zynisches Business.
Skandale grande
So wurde also auch Cyrus aufgepeppt, der erste große Knall sollte im August des vorigen Jahres bei den MTV-Videoawards folgen. Cyrus, im knappsten Kostüm und blondem Kurzhaarschnitt kaum wiederzuerkennen, arbeitete sich ziemlich körperlich an Mitsänger Robin Thicke ab. Der Skandal saß.
Immerhin: Twerking wurde ihr Markenzeichen, und das Wort schaffte es prompt ins Oxford Dictionary, womit auch wieder etwas für Bildung getan wäre. Statt einer unzureichenden Übersetzung: Das ist ungefähr so, als ob es die heimischen Trackshittaz mit dem Songtitel, mit dem sie 2012 beim Song Contest vertreten waren, auch ins Österreichische Wörterbuch geschafft hätten.
Ein Leben mit Abrissbirne
Spätestens mit dem Video zur Single „Wrecking Ball“ gab es in der Popwelt überhaupt nur noch ein Thema: Da saß Miley relativ ganz nackt auf einer Abrissbirne. Während die einen entsetzt taten, klickten die anderen wie blöd. Megahit und moralische Entrüstung in einem, ein Jackpot im Popbusiness.
Sängerin Sinead O’Connor etwa schrieb ihrer jungen Kollegin, sie solle sich doch nicht so prostituieren. Miley fragte wohl ihre Manager und sagte dann, dass sie eh total selbstbestimmt ist. Was Rudolph natürlich auch in jedem Interview betonte: dass seine Kundin von alleine diesen „künstlerischen Weg“ eingeschlagen habe.
„Eine der größten Feministinnen“
In einem BBC-Interview meinte Cyrus schließlich, sie fühle sich wie eine der größten Feministinnen der Welt - denn sie sage Frauen, dass sie sich vor nichts fürchten sollen. Ein bisschen Bildung würde hier vielleicht nicht schaden.

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Angesichts subtropischer Temperaturen gilt das Oufit vielleicht als Badeanzug
Wenn Cyrus als Feministin durchgeht, dann ist Godzilla Architekturkritiker. Und Gesangskollegin Rihanna mit ebenfalls starkem Drang zur Textilfreiheit würde dann für ihren Kleidungsstil ausgezeichnet. Aber hoppla, genau der Preis wurde ihr vom Verband der US-Modedesigner unlängst verliehen. Das zeigt, irgendetwas läuft da ein bisschen aus dem Ruder.
Einheitssound der US-Stars
Apropos Rihanna: „We Can’t Stop“, die erste Single des Cyrus-Imagewechsel-Albums „Bangerz“ war eigentlich für sie geschrieben worden, und vielleicht liegt genau da der Punkt, wo es spätestens live hapert. Für die Handvoll US-Topstars werden seit einigen Jahren sämtliche Songs von derselben Handvoll Songwriter und Produzenten wie Pharrell Williams und Co. fabriziert.
Das alles ist dann angeblich auf der Höhe der Zeit, aber völlig austauschbar. Das Image macht die Musik, schließt man die Augen, könnte es jemand völlig anderer als Cyrus singen - und es würde gleich unspannend klingen. Wenn man noch dazu den aktuellen Zwang zum Clubsound erfüllen muss, bleiben einfach sehr wenige gute Popnummern über. Und das merkte auch das Wiener Publikum.
Wie lange dauert das denn noch?
Das bestand zu überwiegender Zahl aus weiblichen Fans zwischen acht und 18. Vor allem die Jüngeren und ihre mitgeschleppten Erziehungsberechtigten verließ beim Warten auf den Konzertstart bis 21.00 Uhr trotz vieler aufgehängter Kinderjausen-Luftballons und auch nachher teils die Geduld - etwa wenn die Umziehpausen von Cyrus wirklich lange dauerten.

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Grüne Katze mit Achselhöhlenentlüftung
Vor allem die Geduldsspanne junger Menschen ist ja angeblich begrenzt. Der Showabend gestaltete sich demnach mitunter wie eine zu lange Autofahrt. Und das auch für erwachsene Menschen. Und nur in einer Pause gab es völlig willkürlich, völlig unmotiviert einen wirklich großen aufblasbaren Hund, der währenddessen ein bisschen was zum Schauen bot. Da durfte die insgesamt solide, aber teils im Bühnenuntergrund werkende Band auch ein wenig auf Metal machen.
Späte Hits
Die ganz große Stimmung kam erst in der letzten Viertelstunde und danach im Zugabenblock auf, als die großen Hits angestimmt wurden. Und auch da verdichtete sich der Eindruck vom allerersten Mal Hörens von damals: „Wrecking Ball“ hat vielleicht einen Refrain, der okay ist, zum zwingenden Hit wurde der Song aber erst nach unvermeidbarem multimedialen Dauerbeschuss. Mehr ist das nicht.
Arme Kinderstars
Dass es mit Kinderstars oft kein gutes Ende nimmt, sollte bekannt sein - siehe eben Britney Spears, Michael Jackson und auch in Ansätzen Justin Bieber. Und freilich Macaulay Culkin. Der ehemalige „Kevin - Allein zu Haus“-Star tauchte zuletzt nach jahrelanger Versenkung wieder in den Schlagzeilen auf: zunächst wegen seiner obskuren T-Shirt-Freundschaft mit Schauspieler Ryan Gosling und dann mit seiner Band Pizza Underground.
Mit der spielt er pizzathematisch umgedichtete Velvet-Underground-Songs nach. Eine Europatour des angeblich ironischen Projekts fand unlängst schon nach 15 Minuten des ersten Konzerts durch Bierdosenwürfe aus dem Publikum ein jähes Ende. Wir merken: Das Aufwachsen in der Parallelwelt Showbusiness lässt in kindlichen Hirnen schnell ein paar Synapsen durchbrennen, die später ziemlich dringend gebraucht würden.
Ein gutes Ende?
Immerhin: Vor allem bei der Auswahl ihrer live dargebotenen Coverversionen, die sich quer durch alle Genres erstrecken, deutet Cyrus relative musikalische Flexibilität an. Das gilt auch für die Teilnahme an einigen Events, die sich nicht sofort in die Megastar-Schublade stecken lassen. Vielleicht wird da also schon der Grundstein für eine mögliche nächste Karrierephase im etwas ernsteren Fach gelegt, sollte das Image der Teeniesexgöre irgendwann - sagen wir in 18 Monaten - abgelutscht sein. Zumindest für sie darf man auf eine solche Entwicklung hoffen.
Christian Körber, ORF.at
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