Sieben Wochen „chinesischer Frühling“
Aus Trauerkundgebungen über den Tod eines Reformers sind im April 1989 Studenten- und Arbeiterproteste gegen das kommunistische Regime Chinas und dessen mangelnden Reformwillen geworden. Nach sieben Wochen wurde die Demokratiebewegung in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni im Zentrum der Hauptstadt Peking von der Armee blutig unterdrückt. Eine Chronologie:
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15. April: Tod des 1987 entmachteten Generalsekretärs der kommunistischen Partei Chinas (KPCh), Hu Yaobang, der als Befürworter eines liberalen Kurses gegolten hatte. Aus spontanen Trauerkundgebungen an den Universitäten entwickelt sich eine Bewegung gegen Korruption, für Pressefreiheit und demokratische Reformen.
17. April: Studenten marschieren zu Tausenden von den Universitäten zum Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen-Platz), wo sie vor dem Denkmal der Volkshelden eine Trauerkundgebung abhalten. Diese geht fließend in eine regimekritische Veranstaltung über: Die Forderungen der Jahreswende 1986/87 werden wieder aktualisiert, wie etwa die Kritik an der ausschließlichen Besetzung des Volkskongresses, dem chinesischen Parlament, durch Mitglieder der kommunistischen Partei.

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Ein Student verliest ein Gedicht vor dem Porträt von Hu Yaobang, 19. April
26. April: Die Zeichen stehen auf Eskalation: Das Organ der KPCh, „People’s Daily“, veröffentlicht auf der Titelseite den Leitartikel „Es ist notwendig, eine eindeutige Haltung gegenüber den Störungen einzunehmen“.
27. April: Die täglichen Kundgebungen in Peking erfahren zahlreichen Zulauf, an manchen Tagen sind mehr als 100.000 Menschen versammelt. Das große Polizeiaufgebot hält sich noch zurück, auch, als ein Demonstrationszug eine Straßensperre überwindet.
13. Mai: Studenten beginnen einen Hungerstreik auf dem Tiananmen.

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Der Tiananmen am 4. Mai
15. Mai: Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow - der selbst gerade Reformen und Wandel eingeleitet hat - trifft zu einem Besuch in Peking ein, der von den Protesten überschattet wird. Gorbatschow gilt im Westen wie in der chinesischen Demokratiebewegung als Hoffnungsträger. Auf den protokollarischen Empfang Gorbatschows vor der Großen Halle des Volkes (dem Sitz des Volkskongresses) am Tiananmen-Platz muss das Regime verzichten.

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Studenten am vierten Tag ihres Hungerstreiks, dem 16. Mai
17. Mai: Der Ständige Ausschuss des KPCh-Politbüros verfügt unter der Autorität von Deng Xiaoping die Verhängung des Ausnahmezustands. Dennoch greift die Protestbewegung, die sich auch gegen Korruption wendet, auf andere chinesische Millionenstädte über. An diesem und dem folgenden Tag sollen laut Demokratiebewegung in ganz Peking bis zu eine Million Menschen an verschiedenen Orten Kundgebungen abgehalten haben. Daran sollen auch Angehörige der Volksbefreiungsarmee, der Polizei und sogar Parteifunktionäre teilgenommen haben.
19. Mai: Parteichef Zhao Ziyang besucht die rund 10.000 Studenten auf dem Platz. Er nennt ihre Forderungen berechtigt und drängt sie unter Tränen, den Hungerstreik aufzugeben. Das Regime, das ihn zuvor schon unter Druck gesetzt hatte, reagiert blitzartig, Zhao verliert alle Funktion und Ämter. Bis zu seinem Tod im Jahr 2005 steht er unter Hausarrest.

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Zhao bei den Studenten am Tiananmen
20. Mai: Über Teile Pekings, vor allem den inneren Ring um den Platz des Himmlischen Friedens, wird das Kriegsrecht verhängt. Die Staatsführung zieht rund 250.000 Mann der Volksbefreiungsarmee um die Hauptstadt zusammen.
23. Mai: Größte Demonstration seit Verhängung des Ausnahmezustands: Etwa eine Million Menschen demonstrieren am Tiananmen und den angrenzenden Boulevards gegen Regierungschef Li Peng. Es handelte sich laut der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua um die größte Demonstration in Peking seit Verhängung des Kriegsrechts.
29. Mai: Eine der New Yorker Freiheitsstatue nachempfundene „Göttin der Demokratie“ wird von Kunststudenten auf dem Platz aufgestellt. Spaltungstendenzen innerhalb der Führung der Studentenschaft treten auf. Angesichts des drohenden Eingreifens der Armee plädieren einige für einen Abzug vom Tiananmen-Platz. Andere Studentengruppen, die sich den Protesten erst später angeschlossen haben, sprechen sich für eine Fortsetzung der Manifestationen aus.

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Pekings „Göttin der Demokratie“, fotografiert am 30. Mai
1. Juni: Erste Festnahmen führen zu einer Radikalisierung der Studenten, einen Tag später geht die Polizei begrenzt, aber teilweise unter Einsatz von Tränengas gegen die Demonstranten vor.
3. Juni: Am Abend des 3. Juni setzen sich die Einheiten der Volksbefreiungsarme mit T-59-Kampfpanzern und Schützenpanzern von Typ 63 als Speerspitze von allen Seiten in Richtung Zentrum in Bewegung. Zuvor hatten staatliche Sender die Bevölkerung davor gewarnt, ihre Häuser zu verlassen. Vor allem im westlich des Zentrums gelegenen Haidian-Distrikt kommt es zu tödlicher Gewalt.
An der Wukesong-Kreuzung eröffnen die Truppen das Feuer auf Protestierende, die ersten Menschenopfer sind zu beklagen, Hochhäuser werden unter Feuer genommen. Noch weiter Richtung Innenstadt brechen die Panzer durch als Barrikaden quergestellte Busse. In dieser Gegend befinden sich die größten Universitäten, die Peking-, die Renmin- und die Tsinghua-Universität. An den Barrikaden um die Innenstadt werden Hunderte Menschen getötet, einige Soldaten gelyncht.

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Beginn des Militäreinsatzes vor der Halle des Volkes in Peking, 3. Juni
4. Juni: In der Früh erreichen die ersten Panzerfahrzeuge den Tiananmen-Platz, Armee und Bereitschaftspolizei räumen den Platz unter Einsatz von Feuerwaffen, Bajonetten und Schlagstöcken. Menschen werden an den Zufahrtsstraßen von Panzern überrollt. Das Regime gibt die Zahl der Toten später offiziell mit 241 an, die genaue Zahl ist unbekannt. Internationale Organisationen und NGOs gehen im Schnitt von rund 2.500 Toten aus, die Zahl der Verletzten soll in die Tausende gehen.
Später am Tag machen vier internationale Fotografen Bilder eines Ereignisses, das wie kein anderes für die blutigen Ereignisse steht: Ein Mann mit Einkaufstaschen bleibt vor einer Kolonne von T-59 Panzern stehen und zwingt sie so zum Halten. Er steigt noch auf den Turm des Panzers und versucht mit der Besatzung zu sprechen, bevor er wieder herunter klettert - und dann von Unbekannten weggezerrt wird. Die Identität des „Tank Man“ wurde nie geklärt, sein Schicksal ist unbekannt.

AP
Erst 2009 tauchte dieses Foto auf, das den „Tank Man"(Bildmitte links, mit dem Rücken zum Fotografen) wenige Augenblicke vor seiner Konfrontation mit der Panzerkolonne zeigt
5. Juni: In Schanghai, Nanking, Guangzhou und anderen Städten dauern die Proteste noch einen Tag an, bevor auch hier Armee und Polizei den Widerstand brechen. Eine Verhaftungswelle beginnt.

AP/Jeff Widener
Der Tiananmen-Platz am 5. Juni 1989
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