Angst vor neuerlichen Zusammenstößen
Am Jahrestag des Beginns der landesweiten Gezi-Proteste in der Türkei versucht die Regierung neue Demonstrationen in Istanbul mit einem massiven Polizeiaufgebot zu unterdrücken. Vor einer geplanten Demonstration am Samstagabend riegelte die Polizei den symbolträchtigen Taksim-Platz und den benachbarten Gezi-Park ab, von dem vor einem Jahr die Proteste ihren Ausgang genommen hatten.
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Einigen hundert Demonstranten gelang es, sich auf der Istiklal Caddesi zu versammeln. Sie forderten in Sprechchören den Rücktritt der Regierung. Sicherheitskräfte setzten daraufhin Tränengas ein, wie ein Reporter der Nachrichtenagentur dpa berichtete. Der Sender CNN-Türk meldete schon vor dem Tränengas-Einsatz, mehr als 30 Menschen seien festgenommen worden. Danach war auf Fernsehbildern zu sehen, wie Polizisten in Zivil weitere Menschen abführten.
Demonstration auch in Ankara
Auch in Ankara versuchten die Sicherheitskräfte, etwa 1.000 Teilnehmer einer Kundgebung, die an den Beginn der Gezi-Proteste vor einem Jahr erinnerten, mit Gewalt auseinanderzutreiben.
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan warnte vor einer Teilnahme an Demonstrationen und drohte mit einem strikten Vorgehen der Sicherheitskräfte, die „präzise Anordnungen“ hätten. Regierungsgegner hatten für Samstagabend zur Demonstration auf dem Taksim-Platz aufgerufen. Medienberichten zufolge sollen bis zu 25.000 Polizisten und 50 Wasserwerfer verhindern, dass Demonstranten auf den Platz vordringen.

APA/EPA/Tolga Bozoglu
Am Nachmittag wurde der Taksim-Platz abgeriegelt, um Demonstrationen zu verhindern
Bosporus-Fähren bringen seit Samstagnachmittag keine Passagiere mehr vom asiatischen auf den europäischen Teil Istanbuls, wo der Taksim-Platz liegt. Die U-Bahn-Station am Taksim-Platz wurde geschlossen. In Istanbul und in anderen Städten wurden Zusammenstöße befürchtet.
Der Türkei-Korrespondent des US-Senders CNN, Ivan Watson, ist nach eigenen Angaben während einer Liveschaltung vom Taksim-Platz von der Polizei festgesetzt worden. Ein Polizist habe ihn dabei am Samstag mit dem Knie gestoßen, berichtete Watson über Twitter. Er und sein Team seien nach einer halben Stunde wieder freigelassen worden.
Einsatzfahrzeuge bereits in Stellung gebracht
In der Umgebung des Taksim-Platzes wurden neben Wasserwerfern auch Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeuge in Stellung gebracht. Zuletzt hatten gewaltbereite Demonstranten Sicherheitskräfte bei Protesten in Istanbul auch mit Molotowcocktails angegriffen. In mindestens einem Fall schoss die Polizei mit scharfer Munition. Am Rande von Ausschreitungen kamen vergangene Woche zwei Menschen ums Leben.
Erdogan hatte den Aufruf zu Demonstrationen bereits am Freitagabend verurteilt. Ein Jahr nach den Gezi-Protesten wollten die Demonstranten der Türkei „neue Tote, neue Schmerzen“ zufügen, sagte er nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu.
Proteste gegen Einkaufszentrum waren eskaliert
Die Proteste im vergangenen Sommer hatten sich an Plänen der Regierung entzündet, den Gezi-Park am Rande des Taksim-Platzes zu bebauen. Als am 27. Mai des vergangenen Jahres die ersten Baufahrzeuge auffuhren, stellten sich ihnen Aktivisten der Interessengruppe Taksim-Solidarität entgegen.
Die Reaktion der Polizei fiel außerordentlich hart aus. Mit Tränengas und Wasserwerfern ging sie gegen die Demonstranten vor - mit weitreichenden Folgen. Innerhalb weniger Tage versammelten sich Zehntausende Bürger im Park und auf dem angrenzenden Taksim-Platz. Die Protestbewegung schwappte auf weitere türkische Städte über und bescherte dem Land wochenlange schwere Unruhen. Stellvertretend für die landesweiten Proteste gingen die Bilder der Demonstranten auf dem Taksim-Platz um die Welt.
Platz ohne Menschen
Seit einem knappen Jahr gehören Bilder von Menschenmassen auf dem Taksim-Platz allerdings der Vergangenheit an. Nach der Niederschlagung der Proteste im vergangenen Sommer herrscht sowohl im Gezi-Park als auch auf dem Taksim-Platz striktes Demonstrationsverbot. Geht es nach Premierminister Erdogan und seiner AKP, soll das Zentrum Istanbuls auch in Zukunft demonstrationsfrei bleiben. Um das zu verwirklichen, ließ die Regierung an der Südküste des europäischen Teils der Millionenstadt gewaltige Erdmassen bewegen. Im Stadtteil Yennikarpi wurde ein Art Halbinsel im Marmarameer aufgeschüttet.
Demonstranten wollen sich nicht abdrängen lassen
Bis jetzt veranstaltete dort nur die AKP im April eine Kundgebung vor den Kommunalwahlen. Doch bereits für den 1. Mai legte die Regierung den Gewerkschaften nahe, ihre Großkundgebung auf dem neuen Veranstaltungsgelände abzuhalten. Bei den Arbeiterorganisationen traf der Vorschlag der Regierung auf wenig Gegenliebe. Während sich die Polizei in zahlreichen Vierteln Istanbuls Straßenschlachten mit den Demonstranten lieferte, blieb der Platz in Yenikapi menschenleer.
Auch die Demonstranten der Gezi-Bewegungen wollen sich mit ihrer Kundgebungen zum Jahrestag der Proteste nicht auf die 73 Hektar große künstliche Fläche abdrängen lassen.
Verhärtete Fronten
Wie schnell die Situation in Istanbul zurzeit eskalieren kann, zeigte sich zuletzt Mitte Mai. Nach dem Grubenunglück im westtürkischen Soma gingen in Ankara, Izmir und Istanbul Zehntausende Menschen auf die Straße - Zusammenstöße mit der Polizei inklusive. In Istanbul forderten die Proteste sogar ein Todesopfer. Die Polizei gab nach eigenen Angaben Warnschüsse ab, ein junger - angeblich unbeteiligter - Mann starb durch eine Kugel.
Die Fronten zwischen Erdogan und seinen Gegnern scheinen unauflösbar verhärtet. Der türkische Ministerpräsident wurde den Regierungskritikern zum Feindbild schlechthin. Vor allem Erdogans autoritärer Regierungsstil, der auch nicht vor der Zensur der Medien haltmacht, stößt seinen Gegnern bitter auf. Erst im März ließ der Regierungschef mit Hinweis auf die nationale Sicherheit die Videoplattform YouTube sperren - eine Entscheidung, die das oberste Gericht der Türkei am Donnerstag für rechtswidrig erklärte.
Erdogan macht von sich aus jedenfalls keine Anstalten, zu einer Beruhigung der Lage beizutragen. Wiederholt bezeichnete er die Demonstranten als „Terroristen“ und warf ihnen die Spaltung der Türkei vor. Dass er seine Rhetorik in den nächsten Wochen in entspanntere Bahnen lenkt, ist äußerst unwahrscheinlich. Schließlich sieht die Türkei der Präsidentenwahl im August entgegen. Und deren Favorit ist Erdogan - auch wenn er seine Kandidatur noch nicht offiziell verkündet hat.
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