Erdaufschüttung für die Massen
Demonstrationen sollen vor dem Zentrum von Istanbul haltmachen. Zumindest wenn es nach Premier Recep Tayyip Erdogan und seiner Regierungspartei AKP geht. Um das sicherzustellen hat die Regierung in Istanbul im Marmarameer eine künstliche Halbinsel aufgeschüttet. Mehr als eine Million Menschen sollen dort Platz finden.
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Künstliche Inseln und Landzungen, aufgeschüttet aus Tausenden Kubikmetern Erde: Solche Bilder kommen üblicherweise aus den Arabischen Emiraten oder vielleicht noch den Niederlanden. Doch seit März dieses Jahres hat auch Istanbul seine künstliche Halbinsel. In Auftrag gegeben hat sie die türkische Regierung unter Erdogan, und die politische Agenda dahinter liegt nahe.
Seit der Niederschlagung der Gezi-Proteste im vergangenen Sommer herrscht im Gezi-Park und auf dem angrenzenden Taksim-Platz ein strenges Demonstrationsverbot. Nach den Plänen Erdogans soll das auch in Zukunft so bleiben. Für den emotional aufgeladenen Platz im Zentrum der Stadt sieht der Premierminister die Umwandlung in ein parkähnliches Gelände vor - mit vielen Bäumen, die große Menschenansammlungen schon per se erschweren. Und durch die Errichtung des neuen Versammlungsplatzes am südlichen Rand der Stadt lässt sich das Demonstrationsverbot in der Innenstadt umso leichter rechtfertigen.
Dem Meer abgerungen
Beschlossen wurde das Gelände allerdings bereits im Jahr vor den Gezi-Protesten. Schon damals legte die türkische Regierung ein rasantes Tempo vor. So wurde eine Studie, die die Gefährdung des UNESCO-Status Istanbuls durch das Bauprojekt beurteilen sollte, erst nach Baubeginn bei der Uni Aachen in Auftrag gegeben.

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Das Gelände an der Kenney Caddesi vor den Aufschüttungsarbeiten
Die eigentlichen Bauarbeiten dauerten dann auch nur ein gutes Jahr. Kubikmeter um Kubikmeter Erde schütteten Lkws ins Marmarameer und ließen so eine neues Stück Land entstehen. Ein offizieller Architekt für die so geschaffene Aufmarschfläche lässt sich allerdings nicht finden, so das Architekturmagazin „Bauwelt“ im Juni vergangenen Jahres.

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Wo eben noch Meer war, finden jetzt bis zu eine Million Menschen Platz
Marginalisierte Demonstrationen
Auf drei Seiten umschließt das Meer das 73 Hektar große Areal. Und dort, wo das Gelände ans Festland grenzt, trennt der Türkmenistan-Park es von der Stadt - der perfekte Berich, um regierungskritische Demonstranten fern des öffentlichen Bewusstseins zu halten.
Eine Befürchtung, die der Architekt und Mitinitiator der Gezi-Proteste Korhan Gümüs bereits ein halbes Jahr vor den Demonstrationen am Taksim-Platz äußerte. „Sie (die Regierung Anm.) werden den Taksim-Platz abreißen und einen abgeschlossenen und gut zu kontrollierenden Versammlungsplatz abseits des Zentrums errichten“, so Gümus gegenüber der türkischen Journalistenplattform „Bianet“.
Platz für die Möwen
So stößt das neue Gelände bei den regierunsgkritischen Istanbulern auf keine Gegenliebe. Die einzige politische Großveranstaltung war bisher eine Wahlveranstaltung der AKP, mit der das Gelände zugleich eingeweiht wurde. Für den 1. Mai bot Erdogan den Gewerkschaften die neue Fläche als Ort für ihre Kundgebungen an. Und holte sich prompt eine Abfuhr.
Bereits am frühen Morgen des Feiertags trafen Demonstranten und Polizisten in zahlreichen Stadtvierteln aufeinander - nicht immer gewaltlos. Bis zum frühen Nachmittag gab es über 50 Verletzte, rund 150 Personen wurden verhaftet. Auf dem für die Demonstranten freigegebenen Platz in Yenikapi schrien derweil nur die Möwen.
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