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Große Probleme im Maßnahmenvollzug

Hinter österreichischen Zellentüren gibt es offenbar Schicksale, die es in einem Rechtsstaat nicht geben dürfte: Ein psychisch und physisch kranker 74-jähriger Mann wurde in der niederösterreichischen Justizanstalt Krems-Stein monatelang vernachlässigt, Vermerke, die seinen Zustand dokumentierten, drangen offenbar nicht nach oben durch.

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Die Wiener Wochenzeitung „Falter“ hatte am Dienstag angekündigt, „eine investigative Serie mit schockierenden Fotos, Videos und Akten aus dem Österreichischen Strafvollzug“ zu veröffentlichen. Der Auftakt dazu war der Fall des 74-Jährigen. Auf ihn war man im Hochsicherheitstrakt von Stein durch die Wahrnehmung von „Verwesungsgeruch“ aufmerksam geworden, schreibt der „Falter“ in seiner aktuellen Ausgabe unter dem Titel „Die Schande von Stein“. De facto muss der Zustand den diensthabenden Beamten wohl aufgefallen sein.

Zustände „furchtbar“

Im Justizministerium schrillen nun die Alarmglocken, kritische Stimmen sprechen von jahrelangen Versäumnissen im Strafvollzug, Handlungsbedarf sehen beide Seiten. Der zuständige Sektionschef im Justizministerium, Michael Schwanda, bezeichnete den Fall des Mannes am Mittwoch im Ö1-Morgenjournal als „furchtbar“, der Maßnahmenvollzug (für als besonders gefährlich geltende bzw. psychisch kranke Häftlinge, Anm.) werde „evaluiert“. Das Ministerium habe von dem Skandal erst in den letzten Wochen erfahren, obwohl bereits Mitte März Anzeige erstattet worden war - mehr dazu in oe1.ORF.at.

„Verwesungsgeruch“ aus der Zelle

Laut „Falter“ hatten Beamte der niederösterreichischen Haftanstalt im Hochsicherheitstrakt eine „Geruchsbelästigung“ wahrgenommen und Probleme mit einem „geistig abnormen“ Häftling, der nicht zum Arzt wolle, gemeldet. Der Vorgesetzte habe später, nach dem Öffnen der Zellentür, im Protokoll vermerkt, ihm sei „starker Verwesungsgeruch“ entgegengeschlagen. Der stammte offenbar von offenen Wunden.

Es sei „sicherlich nicht alles ordnungsgemäß abgelaufen. Es tut mir leid, dass so etwas in einer Anstalt passiert ist. Es macht uns betroffen“, sagte Peter Prechtl, der Leiter der Vollzugsdirektion, gegenüber dem ORF - mehr dazu in noe.ORF.at.

Brandstetter spricht von „Katastrophe“

Justizminister Wolfgang Brandstetter, der über die Causa offenbar nicht informiert wurde, sprach angesichts der vom „Falter“ veröffentlichten Fotos von einer „Katastrophe". Am Mittwoch kündigte er - „zornig“ - die Suspendierung dreier Beamter und ein Maßnahmenpaket für den betroffenen Maßnahmenvollzug an.

Der Wiener Gerichtspsychiater und ehemalige medizinische Leiter der Justizanstalt Mittersteig, Patrick Frottier, sagte, man dürfe angesichts dieser Missstände „nicht zur Tagesordnung übergehen“. Die Staatsanwaltschaft Krems bestätigte Ermittlungen wegen des Verdachts der Vernachlässigung eines Gefangenen. Der Chef von Amnesty International (AI) Österreich, Heinz Patzelt, sprach von einer „kriminellen Verwahrlosung, die ich noch nie gesehen habe“.

SPÖ-Justizsprecher Hannes Jarolim bezeichnete die vom „Falter“ publik gemachten Zustände in einer Aussendung am Mittwoch als „unverzeihlich und erschütternd“, sie könnten „nur eine Konsequenz haben: eine rasche Reform des Maßnahmenvollzugs für geistig abnorme Rechtsbrecher sowie grundsätzliche Reformschritte im Strafvollzug". Brandstetter „und auch die gesamte österreichische Justizpolitik sind aufgefordert, nun rasch und konsequent alle notwendigen Schlüsse aus diesem Vorfall zu ziehen und die entsprechenden Verbesserungen herbeizuführen“, so Jarolim.

Rufe nach raschen Reformen

Der Justizsprecher der Grünen, Albert Steinhauser, bezeichnete die Causa als einen „unfassbaren Skandal, der Österreich und seine Justiz erschüttert“. Nach Bekanntwerden der Vergewaltigung eines Häftlings im letzten Jahr habe die damalige Justizministerin Beatrix Karl (ÖVP) noch „zynisch angemerkt“, dass in Gefängnissen eben „keine paradiesischen Zustände“ herrschten. Nicht erst mit dem aktuellen Fall sei klar, dass der Strafvollzug jahrelang vernachlässigt worden sei und dringender Handlungsbedarf bestehe.

Sie sei „sprachlos“ über die bekanntgewordenen Zustände in Stein, so NEOS-Justizsprecherin Beate Meinl-Reisinger in einer Reaktion am Mittwoch. Das interne Berichts- und Kontrollwesen habe hier offensichtlich gänzlich versagt. Auf jeden Fall - und „in absolut jeder budgetären Lage“ - müsse eine ausreichende medizinische Betreuung der Insassen des Maßnahmenvollzugs gewährleistet sein. Jeder Mensch habe das Recht, „gepflegt zu werden, wenn er dazu selbst nicht in der Lage ist“.

Volksanwaltschaft will verstärkt aufmerksam sein

Der „Falter“ will laut Ankündigung vom Dienstag weitere interne Dokumente aus den Justizanstalten Stein, Suben (Oberösterreich), Karlau (Graz), Klagenfurt und Wien öffentlich machen, die zeigten, wie „Häftlinge schwer vernachlässigt, Insassen von Beamten misshandelt und kriminelle Beamte protegiert werden“. Auch in Kärnten werde man sich demnächst „wundern“, hieß es von der Wiener Wochenzeitung auf Anfrage - mehr dazu in kaernten.ORF.at.

Entsetzt zeigte sich auch Volksanwältin Gertrude Brinek. Die Volksanwaltschaft werde mit ihren Kommissionen die begonnene Menschenrechtsprüfarbeit in den Strafvollzugsanstalten verstärkt fortsetzen, um derartige Missstände in Zukunft verhindern zu helfen. „Der tragische Fall von Versagen verweist auf ein Strukturproblem, das mehrere Ebenen umfasst. Ich erwarte mir rasche Konsequenzen und werde ein umfassendes Prüfverfahren einleiten.“

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